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Was macht Dein Radiergummi in meinem Kopf? – Vom Unsinn des Vergessenwerdens.

avatar  Niko Härting

„Es gab Zeiten, da gab es ein Recht auf Vergessen. Da hat man, als Schluss war, den Packen Liebesbriefe genommen, und dramatisch in Flammen aufgehen lassen – und dann ward nie wieder gelesen, was einst zwei Herzen schrieben.“

So beginnt ein Beitrag aus „The European“ zum „Right To Be Forgotten“, das die EU-Kommission einführen möchte („Gelöscht, niemals verloschen“, The European v. 31.1.2012).

Und Viktor Mayer-Schönberger erinnert kurz vor Thanksgiving in der „Washington Post“ ganz sentimental an die guten alten Zeiten des Vergessens:

„As you sat across the Thanksgiving table basking in the warmth of family and the aroma of chestnut stuffing, most likely you did not remember the vicious comment your Aunt Jennifer made about you a few years back. You didn’t dwell on Uncle Julio’s unkind reference to your drinking last Christmas or what cousin Duwan said about your girlfriend during that dreadful vacation at the shore. At family holidays, we tend to embrace our relatives even after months or years of not having seen one another, regardless of the quarrels we have had in the past.“ („Why we need to let our online memories go“, Washington Post v. 23. November 2012)

Nostalgische Reminiszens

Das befreiende Gefühl beim Verbrennen alter Briefe, die milde Gnade beim Vergessen familiären Streits: All diese Segnungen der guten vordigitalen Zeit sind in Gefahr, wenn über Facebook, Google, Twitter und Co. die Zeugnisse der Vergangenheit auf alle Ewigkeiten abrufbar bleiben. So oder ähnlich klingt die Begleitmusik, mit der die Einführung eines „Rechts auf Vergessen“ gefordert wird. Und man ist leicht versucht, in diese Musik einzustimmen, wissen wir doch alle, wie heilsam es ist, wenn das menschliche Gedächtnis selektiert: Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die schönen Stunden nur! Gar nicht auszudenken, wenn das „Vergessen“ im digitalen Zeitalter in Gefahr wäre.

Aber ist dies wirklich der Fall?

Kein „Recht auf Vergessen“

Die EU-Kommission spricht bezeichnenderweise im Passiv: Es geht ihr nicht um ein „Right To Forget“, sondern um ein „Right To Be Forgotten“. Und dies aus guten Grund. Ein „Right To Forget“ wäre nachgerade unsinnig. In Zeiten, in denen ein Buch mit dem flotten Titel „Digitale Demenz“ zum vieldiskutierten Bestseller wird (vgl. „Analoge Ignoranz spielt mit den Ängsten der Menschen“, FAZ online v. 3.10.2012), kann man nun wirklich nicht behaupten, dass das „Vergessen“ in Gefahr ist.

Bei der täglichen Informationsflut, der wir alle ausgesetzt sind, ist die Merkfähigkeit das Problem und nicht die Fähigkeit des Vergessens. Und natürlich können und wollen weder Mark Zuckerberg noch Larry Page Menschen das Verbrennen von Briefen oder das Verdrängen familiärer Konflikte verbieten. Der Facebook-Nutzer des 21. Jahrhunderts vergisst aller Wahrscheinlichkeit so viel und so selektiv, wie dies bei den „fernsehsüchtigen“ Großstadtkindern der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts der Fall war. Für ein gesetzliches „Recht auf Vergessen“ würde es an jeglichem Sachverhalt fehlen, auf den sich ein solches Recht stützen ließe. es ist daher konsequent, wenn kein „Recht auf Vergessen“, sondern ein „Recht auf Vergessenwerden“ gefordert wird.

Absurde Beispielswelt für’s „Recht auf Vergessenwerden“

Allerdings: Liebesbriefe, Thanksgiving Dinner – Die kitschigen Parallelen zur analogen Vergangenheit werden bei einem „Recht auf Vergessenwerden“ mehr als absurd. Wenn mein Ex-Geliebter meine uralten, vor peinlich-ungelenken Liebesbekenntnissen triefenden Briefe  in einer Schatztruhe verwahrt, war und ist dies stets sein gutes Recht. Als Verfasser der Liebesbriefe habe ich kein Recht, die Vernichtung der Briefe zu verlangen. Noch viel weniger habe ich das Recht, von dem Verflossenen „vergessen zu werden“.

Und auch das Thanksgiving-Beispiel hat wenig Bezug zum „Vergessenwerden“.  Nicht alle Familientreffen verlaufen so harmonisch, wie dies im Hause Mayer-Schönberger der Fall zu sein scheint. Und so geschieht es, dass der Vater den Sohn oder die Mutter die Tochter zu Weihnachten gerne an picklige Jugendliebschaften oder die Lieblings-Boy-Band der Teenagerzeit und die knallgrün gestrichenen Wände des Kinderzimmers erinnert. Sohn und Tochter fluchen heimlich und wünschen sich, diese alten Geschichten mögen doch endlich „vergessen werden“. Die Einführung eines Rechts, von Familie, Nachbarn und Freunden das „Vergessenwerden“ peinlicher Jugendsünden zu verlangen, hat bis dato noch niemand verlangt.

Eigentliche Unmöglichkeit

Bei einem „Recht auf Vergessenwerden“ geht es nicht um Informationen in „meinem Gedächtnis“, sondern um Informationen im Gedächtnis der Mitmenschen. Und an diesen Informationen habe ich naturgemäß keine Rechte. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen umfasst nicht das Recht, darüber zu bestimmen, wie man selbst wahrgenommen wird.  Oder mit den Worten des BVerfG:

„Das Persönlichkeitsrecht verleiht seinem Träger keinen Anspruch darauf, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist .“ (BVerfG, Beschl. v. 8.6.2010 – 1 BvR 1745/06)

Ein (natürliches) „Recht auf Vergessen“ mag es geben, ein „Recht auf Vergessenwerden“ ist dagegen ein Unding. Alle Versuche, bestehende (datenschutzrechtliche) Löschungsansprüche zu einem umfassenden „Recht auf Vergessenwerden“ auszubauen, sind ein gefährlicher und kurzsichtiger Irrweg.

(vgl. auch Härting, „‚Right to Remember‘ – eine zivilisatorische Errungenschaft“, CRonline Blog v. 23.11.2012 und Härting „‚Recht auf Vergessen‘ – ein ‚Feind des Internets‘?“, CRonline Blog v. 12.3.2012)

 

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Mehr zum Autor: RA Prof. Niko Härting ist namensgebender Partner von HÄRTING Rechtsanwälte, Berlin. Er ist Mitglied der Schriftleitung Computer und Recht (CR) und ständiger Mitarbeiter vom IT-Rechtsberater (ITRB) und vom IP-Rechtsberater (IPRB). Er hat das Standardwerk zum Internetrecht, 6. Aufl. 2017, verfasst und betreut den Webdesign-Vertrag in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt). Zuletzt erschienen: "Datenschutz-Grundverordnung".

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