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BVerfG ebnet DSGVO-Schadensersatzklagen den Weg

avatar  Tim Wybitul

Das BVerfG hat in einem kürzlich bekanntgewordenen Beschluss klargestellt, dass die Frage nach einer Erheblichkeitsschwelle bei DSGVO-Schadensersatzansprüchen abschließend durch den EuGH zu klären ist. In einem Beschluss vom 14. Januar 2021 (Az.: 1 BvR 2853/19) entschieden die Verfassungsrichter, dass deutsche Gerichte Klagen auf immateriellen Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO nicht ohne Weiteres mit der Begründung abweisen dürfen, dass die geltend gemachte Beeinträchtigung lediglich einen Bagatellschaden darstelle.

Bereits jetzt gibt es eine Vielzahl von DSGVO-Schadensersatzklagen vor deutschen Gerichten. Die BVerfG-Entscheidung dürfte diesen Trend noch verstärken und hat erhebliche Folgen für die Praxis. Der nachfolgende Überblick erläutert den Beschluss des BVerfG und zeigt seine Konsequenzen ebenso wie Möglichkeiten, sich auch nach der Entscheidung der Verfassungsrichter erfolgreich gegen Klagen nach Art. 82 DSGVO zu verteidigen.

Der Ausgangsfall:  Klage auf immateriellen Schadensersatz nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO

Das BVerfG hob ein Urteil des AG Goslar vom 27.9.2019 sowie einen Beschluss im selben Verfahren vom 11.11.2019 auf (Az.: 28 C 7/19). Der Senat verwies die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das AG Goslar zurück.

Sachverhalt:  In dem Verfahren vor dem Amtsgericht ging es um eine Werbe-E-Mail, die die Beklagte an die berufliche Adresse des Klägers geschickt hatte. Der Kläger argumentierte, dass die Nutzung seiner E-Mail-Adresse im Sinne von Art. 6 DSGVO datenschutzwidrig sei, weil die Beklagte sie ohne seine Einwilligung verwendet habe.

Klageantrag:  Der Kläger – übrigens ein Rechtsanwalt – klagte auf Unterlassung, Auskunft und Schadensersatz. Er stellte die Höhe des Schmerzensgeldes in das Ermessen des Gerichts, es solle aber den Betrag von 500,- Euro nicht unterschreiten.

Ansatz des AG Goslar:  Das AG Goslar gab der Klage hinsichtlich des geltend gemachten Unterlassungsanspruchs und des Auskunftsanspruchs statt. Im Übrigen wies es die Klage ab. Den geltend gemachten Schadensersatzanspruch nach Art. 82 DSGVO lehnte das AG Goslar mit der Begründung ab, dass kein Schaden ersichtlich sei. Die Beklagte habe dem Kläger lediglich eine einzige Werbe-E-Mail zugesandt, die zudem nicht zur Unzeit versandt worden sei. Zudem habe das äußere Erscheinungsbild der E-Mail deutlich gezeigt, dass es sich um Werbung handele. Daher sei ein längeres Befassen mit dieser Werbe-E-Mail nicht notwendig gewesen.

Beschwerde:  Eine Berufung gegen Urteile eines Amtsgerichts im ersten Rechtszug ist nach § 511 ZPO bekanntlich nur dann statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands 600,- Euro übersteigt oder das Amtsgericht die Berufung im Urteil ausdrücklich zugelassen hat. Nach der Zurückweisung seiner Anhörungsrüge rügte der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, also seinem Recht auf den gesetzlichen Richter.

Die Entscheidung des BVerfG:  Voraussetzungen einer Vorlage an den EuGH

Das BVerfG nahm die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gab ihr statt.

Argumentationslinie:  Die angegriffene Entscheidung habe das Recht des Beschwerdeführers (und vorherigen Klägers) auf seinen gesetzlichen Richter verletzt. Die Verfassungsbeschwerde sei offensichtlich begründet. Aufgrund der nicht zugelassenen Berufung sei das Amtsgericht die letzte Instanz in diesem Verfahren. Das Amtsgericht habe das Recht des Beschwerdeführers auf den gesetzlichen Richter verletzt. Denn es habe davon abgesehen, seine Entscheidung dem EuGH zur Vorabentscheidung gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV vorzulegen.

Vorlagepflicht:  Nach der Rechtsprechung des EuGH müsse ein letztinstanzliches Gericht seine Entscheidung dem EuGH vorlegen, wenn sich in einem Verfahren eine Frage des Unionsrechts stellt. Die Vorlagepflicht gelte dann nicht, wenn das Gericht feststellt, dass die gestellte Frage nicht entscheidungserheblich ist. Das nationale Gericht müsse auch dann nicht vorlegen, wenn die betreffende unionsrechtliche Bestimmung (hier: Art. 82 DSGVO) bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war (acte éclaré). Ebenso gelte eine Ausnahme von der Vorlagepflicht, wenn die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für einen vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt (acte clair).

Prüfungsumfang:  Das BVerfG überprüfe bei Fragen der Zuständigkeit nach Art. 267 Abs. 3 AEUV grundsätzlich nur, ob die Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsregel bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheint und offensichtlich unhaltbar ist. Dies gelte etwa dann, wenn ein letztinstanzliches Gericht eine Vorlage zum EuGH trotz der nach seiner eigenen Auffassung bestehenden Entscheidungserheblichkeit der unionsrechtlichen Frage überhaupt nicht in Erwägung zieht, obwohl das Gericht selbst Zweifel hinsichtlich der richtigen Beantwortung der Frage hat.

Kriterium:  Für die Frage nach der Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter durch Nichtvorlage an den EuGH komme es im Ausgangspunkt nicht in erster Linie auf die Vertretbarkeit der fachgerichtlichen Auslegung des für den Streitfall maßgeblichen materiellen Unionsrechts (hier: DSGVO) an. Vielmehr sei die Beachtung oder Verkennung der Voraussetzungen der Vorlagepflicht relevant.

BVerfG: Deutsche Gerichte dürfen Klagen nach Art. 82 DSGVO nicht als Bagatellschaden abweisen

Verletzung:  Nach Auffassung der Verfassungsrichter hat die Entscheidung des AG Goslar das Recht des Beschwerdeführers auf den EuGH als seinen gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt. Denn das Amtsgericht hätte nicht ohne Vorabentscheidungsersuchen urteilen dürfen, dass der Beschwerdeführer durch den Erhalt der Werbe-E-Mail keinen Schaden nach Art. 82 DSGVO erlitten habe.

Entscheidungserhebliche Fragen:  Der im Verfahren vor dem Amtsgericht zu beurteilende Sachverhalt werfe die Frage auf, unter welchen Voraussetzungen Art. 82 Abs. 1 DSGVO einen Geldentschädigungsanspruch gewähre, also welches Verständnis dieser Vorschrift insbesondere im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 S. 3 DSGVO und einer möglichen Erheblichkeitsschwelle zu geben sei. Dieser Erwägungsgrund verlange eine weite Auslegung des Schadensbegriffs im Lichte der Rechtsprechung des EuGH, die den Zielen der DSGVO in vollem Umfang entspricht.

Kein acte éclaré:  Der Geldentschädigungsanspruch nach Art. 82 DSGVO sei in der Rechtsprechung des EuGH nicht erschöpfend geklärt. Auch könnten seine Voraussetzungen nicht unmittelbar aus der DSGVO bestimmt werden. Die bislang vorliegende Literatur spreche sich im Hinblick auf Erwägungsgrund 146 DSGVO wohl für ein weites Verständnis des Schadensbegriffes aus. Doch auch hier seien die Details und der genaue Umfang des Anspruchs noch ungeklärt.

Kein acte clair:  Von einer richtigen Anwendung des Unionsrechts, die derart offenkundig sei, dass für vernünftige Zweifel kein Raum bliebe (acte clair) könnte das Amtsgericht ebenfalls nicht ausgehen. Dies gelte umso mehr als Art. 82 DSGVO sogar ausdrücklich immaterielle Schäden einbeziehe.

Fehler:  Die angegriffene Entscheidung zeige, dass das Amtsgericht die Problematik der Auslegung von Art. 82 Abs. 1 DSGVO durchaus gesehen habe. Es habe aber fehlerhaft eine eigene Auslegung des Unionsrechts vorgenommen, in dem es sich für die Ablehnung des Anspruchs auf ein Merkmal fehlender Erheblichkeit gestützt habe. Diese Erforderlichkeitsschwelle sei so nicht in der DSGVO angelegt. Sie werde auch weder von der Literatur befürwortet noch vom EuGH angewendet.

Folgen für die Praxis

Die Entscheidung des BVerfG wird Auswirkungen auf Verfahren wegen immateriellen Schadensersatz nach Art. 82 Abs. 1 DSGVO haben.

Erheblichkeitsschwelle?  Die deutsche Rechtsprechung zu Art. 82 DSGVO ging bislang überwiegend von dem Erfordernis einer Erheblichkeitsschwelle aus:

  • Ja:  Die meisten Gerichte bewerteten Bagatellschäden daher grundsätzlich nicht als erstattungsfähig.
  • Nein:  Nur wenige Entscheidungen gingen bislang davon aus, dass auch niederschwellige immaterielle Schäden zu einer Geldentschädigung führen sollten, so etwa das LG Darmstadt.

Optionen des AG Goslar:  Zunächst muss nun das AG Goslar klären, ob es die vom BVerfG angesprochene Frage der Erheblichkeitsschwelle dem EuGH vorlegt. Hierfür könnte der Beschluss der Verfassungsrichter geradezu als Blaupause dienen. Gegebenenfalls könnte das Amtsgericht das Verfahren auch auf andere Gründe als die Annahme einer Bagatellschwelle stützen oder die Berufung zum Landgericht ausdrücklich zulassen.

Vorlage an EuGH:  Nach der hier besprochenen Entscheidung des BVerfG dürfte es allerdings voraussichtlich nur noch eine Frage der Zeit sein, bis ein deutsches Gericht dem EuGH zu der Frage der Erheblichkeitsschwelle vorlegt. Bis zu einer entsprechenden Entscheidung des EuGH wird man sich wohl darauf einstellen müssen, dass spezialisierte Klägervertreter und andere Anbieter mit dem vorliegenden Beschluss mehr oder minder aktiv Werbung für Klagen nach Art. 82 DSGVO machen werden.

Argumente:  Dabei gibt es gute Gründe für die Annahme einer Erheblichkeitsschwelle. Beispielsweise:

  • setzt Erwägungsgrund 85 Satz 1 DSGVO ausdrücklich „erhebliche wirtschaftliche oder gesellschaftliche Nachteile für die betroffene natürliche Person“ voraus; und auch
  • Erwägungsgrund 146 S. 6 DSGVO sieht einen Schadensersatz nur für tatsächlich „erlittenen“ Schaden vor – und nicht für jede eher niederschwellige subjektiv empfundene Beeinträchtigung.

Wie verteidigt man sich nach der Entscheidung des BVerfG noch erfolgreich gegen DSGVO-Schadensersatzklagen?

Nach wie vor können deutsche Gerichte Klagen auf den materiellen Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO wegen sonstigen Gründen ablehnen. Beispielsweise sieht man in der Praxis häufig Klagen, die sich allein auf einen möglichen oder vermuteten Verstoß stützen.

Keine Beweislastumkehr:  Den bisherigen Kurs der ganz überwiegenden Rechtsprechung und von Teilen der Fachliteratur, aus dem Rechenschaftsgebot des Art. 5 Abs. 2 DSGVO keine zivilrechtliche Beweislastumkehr zu folgern, hat das BVerfG nicht angegriffen. Vielmehr wird dieser Aspekt in der ganzen Entscheidung noch nicht einmal erwähnt.

Nachweis der Kausalität:  Insofern bleibt es wohl auch dabei, dass die Kläger – selbst bei einem festgestellten Verstoß – noch nachweisen müssen, dass dieser für einen eingetretenen Schaden kausal war.

Insgesamt bleiben Unternehmen nach wie vor gute Möglichkeiten, sich effektiv gegen DSGVO-Schadensersatzklagen erfolgreich zu verteidigen.

Fazit

Auch wenn Klägeranwälte die Entscheidung des BVerfG sicherlich als Chance oder gar Unterstützung bewerten werden, sprechen bei einer guten Verteidigung nach wie vor einige Argumente dafür, dass deutsche Gerichte bei Klagen nach Art. 82 DSGVO weiterhin eine gewisse Zurückhaltung wahren. Insofern hat die Entscheidung des BVerfG DSGVO-Klägern zwar den Weg zum EuGH geebnet. Es sprechen aber gute Argumente dafür, dass auch der EuGH die durchaus in der DSGVO angelegte Erheblichkeitsschwelle beim immateriellen Schadensersatz bestätigen könnte.

Eine ständig aktualisierte tabellarische Übersicht mit relevanten Entscheidungen deutscher Gerichte zu Art. 82 DSGVO können Sie hier abrufen.

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