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Verfassungsdämmerung

avatar  Christian Franz, LL.M.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz

Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs in der Sache „Deutsche Wohnen“ hat keine Sprengkraft. Wir befinden uns im Zustand nach einer Detonation und stehen in den rauchenden Trümmern der Rechtsstaatlichkeit.

Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass Unternehmen für das Fehlverhalten jedes einzelnen ihrer Mitarbeiter bußgeldrechtlich einzustehen haben. Das soll unabhängig von einer Leitungsverfehlung oder Kenntnis der Unternehmensleitung gelten (EuGH, Urt. v. 5.12.2023, C-807/21 – „Deutsche Wohnen“). Unter diesem Gesichtspunkt haftet das Unternehmen auch für Verfehlungen des Auftragsverarbeiters sowie jedes einzelnen dortigen Mitarbeiters. Gleichzeitig hat der Europäische Gerichtshof festgestellt: Es bedarf eines Verschuldens, also fahrlässiger oder vorsätzlicher Begehung des Verstoßes.

Wen juckt deutsches Verfassungsrecht?

Mit diesem Urteil, an dem u.a. ein Bochumer Juraprofessor als Richter beteiligt war, räumt der EuGH einen wesentlichen Teil des deutschen Ordnungswidrigkeitsrechts ab. Das nämlich sieht in den §§ 30, 130 OWiG ein Zurechnungssystem vor, das als Ausfluss des verfassungsrechtlich verankerten Verschuldensprinzips die Umstände regelt, nach denen juristische Personen bebußt werden dürfen. Ein solches System ist aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts zwingend, weil juristische Personen nur durch ihre Organe handeln können, sodass diesen ein Verschuldensvorwurf gemacht werden muss, um in das Eigentumsrecht der Inhaber des Unternehmens eingreifen zu dürfen. Das bedeutet auch: Ein Verstoß durch einen ordnungsgemäß angeleiteten und überwachten einfachen Mitarbeiter kann nicht strafbegründend wirken. Das ist so selbstevident gerecht, dass einem die Worte dafür fehlen, um eine Gegenauffassung auch nur halbwegs kohärent zu formulieren.

Der EuGH hat sie folgerichtig auch nicht kohärent formuliert, soweit aus der bislang allein verfügbaren Pressemitteilung ersichtlich. Indem der EuGH auf das Erfordernis einer nachvollziehbaren Handlungszurechnung verzichten will, stellt sich die Frage, was die künftig wie Konfetti auszureichenden Bußgelder bringen sollen – auch deshalb, weil die Haftung auch auf anderer Ebene uferlos ausgestaltet sein soll. So werden auch andere rechtlich selbstständige Gesellschaften im Konzernverbund kurzerhand mit verhaftet. Welche Straffunktion stellt der EuGH sich da vor?

Straffunktionen? Welche Straffunktionen?

Die Antwort ist: gar keine. Es geht um das Strafen um seiner selbst willen. Die Aktionäre oder Gesellschafter der rein zufällig betroffenen Unternehmen sind ja kein tauglicher Gegenstand irgendeiner Vergeltung oder Sühne, die einem „Opfer“ Genugtuung verschaffen könnte. Sie sind auch nicht in der Lage, ihr künftiges Verhalten in irgendeiner Form zu „bessern“. Sie und die Leitungspersonen, die (untechnisch gesprochen) ihn ihrem Auftrag handeln, haben ja schlicht nichts falsch gemacht. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zeigt sich hier zum wiederholten Male von ihrer schlechtesten Seite. Sie schwebt völlig frei von dogmatischen Erwägungen im rechtsfreien Raum. Sie berührt weder die Wände und schon gar nicht den Boden der Tatsachen.

Gefährdungshaftung für Unternehmensinhaber

Was der EuGH da heute tatsächlich geschaffen hat und die Auswirkungen können kaum unterschätzt werden: Eine Gefährdungshaftung für die Beteiligung an Unternehmen. Kommt es zu einem Datenschutzrechtsverstoß, bedient sich der supranationale Staatenverbund hemmungslos. Resistance is futile. Die letzte Hoffnung ist nun das Bundesverfassungsgericht. Das hatte sich zuletzt geneigt gezeigt, dem demokratisch nicht legitimierten Europäischen Gerichtshof seine Grenzen aufzuzeigen. Ob es das allerdings auch bei in der Öffentlichkeit erstaunlich wenig populären Opfern wie Unternehmen oder gar, Gott bewahre, Konzernen tun wird, ist zweifelhaft. Für die laufenden Verfahren und dabei auch das von der Entscheidung betroffene Verfahren gegen die „Deutsche Wohnen“ besteht ein letzter Lichtblick, namentlich in Gestalt von Art. 103 Abs. 2 GG. Danach muss eine Strafnorm — zu denen nach zutreffender Auffassung auch die Verwaltungsstrafnormen des Unionsrechts gehören — im Zeitpunkt der Tat so bestimmt gewesen sein, dass sie normkonformes Verhalten und eine Meidung der Strafe überhaupt ermöglichten. Das ist jedenfalls dann nicht der Fall, wenn — wie hier — völlig unklar ist, welche Zurechnungskriterien für wessen Handlungen zu einem Einstehenmüssen führen sollten.

Insoweit bleibt zu wünschen, dass jedenfalls den potenziellen Opfern des EuGH, deren Verfahren bislang anhängig sind, auf diesem Weg fachgerichtlich geholfen wird. Angesichts der Abschätzigkeit, man möchte fast sagen, des Ekels, den das Kammergericht in seiner Vorlage über die auch hier vertretene Auffassung geäußert hat, steht aber auch darüber ein großes Fragezeichen. Die weiteren Konsequenzen des Urteils sind in ihrer Dimension kaum fassbar. Sie reichen weit über den Datenschutz hinaus. Angesichts des vollkommen außer Kontrolle geratenen unionsrechtlichen Regulierungswahns, der eine zuverlässig rechtskonforme Führung von Unternehmen faktisch unmöglich macht, sollten Unternehmen sich auf finstere Zeiten einstellen.

Die Europäische Union war einmal ein Wohlstands- und Friedensprojekt. Heute dient sie nur der Durchsetzung düsterer politischer Fantasien, die bei demokratischer Kontrolle keine Chance hätten, auch nur das Entwurfsstadium eines Gesetzes zu überleben. Der EuGH macht sich mit dem hier besprochenen Urteil einmal mehr mit diesem völlig frei drehenden Ersatzgesetzgeber gemein. Es ist ein Trauerspiel.

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