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EuGH zu Filterpflichten: Wegweiser für optimale Umsetzung der DSM-RL?

avatar  Prof. Dr. Caroline Volkmann
h_da Hochschule Darmstadt University of Applied Sciences

Der EuGH hält Filterpflichten nach Art. 17 DSM-RL für mit der EU-Grundrechtecharta und der EMRK vereinbar (EuGH, Urt. v. 26.4.2022 – C-401/19, CR 6/2022, vgl. dazu Spindler, CR 2019, 277, 283 Rz. 85 ff.; Volkmann, CR 2019, 376 Rz. 30 ff.).

Entwickelt sich die deutsche Umsetzung im UrhDaG dadurch vom Sonderweg zum Musterbeispiel?

 

1. Unionsrechtlicher Beurteilungsmaßstab

Art. 17 DSM-RL hat im Zusammenhang mit den umstrittenen Filterpflichten im Jahr 2019 hohe Wellen geschlagen. Bereits kurz nach Verabschiedung der DSM-RL hat Polen gegen Art. 17 Abs. 4 b) DSM-RL beim EuGH Nichtigkeitsklage eingereicht, da eine Verletzung der Meinungs- und Informationsfreiheit gem. Art. 11 EU-Grundrechtecharta vorliege.

Der EuGH hat die Klage – vielleicht wenig überraschend – abgewiesen. Aus der Urteilsbegründung geht zum einen das begrüßenswerte Bekenntnis des EuGH zur Rechtsprechung des EGMR hervor. Zum anderen ist die systematisch und inhaltlich präzise Argumentation des EuGH ein eindeutiges Signal, dass der deutsche Gesetzgeber mit den zwar komplizierten, aber auf ausgewogene Interessensabwägung abzielenden Regelungen des UrhDaG Art. 17 DSM-RL richtig interpretiert und umgesetzt hat.

 

2. Ansatz des EuGH

Der EuGH bewertet den durch Art. 17 Abs. 4 b) DSM-RL verursachten Eingriff in die Meinungs- und Informationsfreiheit als verhältnismäßig (Rn. 82 ff.). Dabei ist die Rechtsprechung des EGMR zu berücksichtigen, wonach Einschränkungen der Informationsfreiheit vor dem Hintergrund der Bedeutung des Grundrechts in einem besonders strikten rechtlichen Rahmen erfolgen müssen (Rn. 68):

  • Mitgliedstaatliches Ermessen:
    Der Umsetzungsspielraum, den Art. 17 Abs. 4 DSM-RL den Mitgliedstaaten bei der konkreten Ausgestaltung der Haftungsregeln überlässt, kann nicht zu einer „vorgezogenen“ Grundrechtswidrigkeit führen, vor allem dann, wenn der Sekundärrechtsakt mehrere Auslegungen zulässt (Rn. 70, 71).
  • Verfügbarkeit hochgeladener Werke:
    Art. 17 Abs. 7 DSM-RL stellt ausdrücklich klar, dass die Maßnahmen der Diensteanbieter nicht dazu führen dürfen, dass von Nutzern hochgeladene Werke nicht verfügbar sind, wenn kein Verstoß gegen das Urheberrecht vorliegt, und zwar auch dann, wenn eine Ausnahme oder Beschränkung des Urheberrechts vorliegt (Rn. 77 ff.).
  • Verbindliche Schranken:
    In diesem Zusammenhang werden die Schranken für Zitate, Karikatur, Parodie und Pastiche durch Art. 17 Abs. 7 Unterabs. 2 DSM-RL im Unterschied zu den Regelungen der Infosoc-RL verbindlich vorgeschrieben, um die Rechte der Nutzer zu gewährleisten und hinreichend zwischen einem zulässigen und unzulässigen Inhalt zu unterscheiden (Rn. 86, 87).
  • Haftung:
    Die Haftung der Diensteanbieter nach Art. 17 Abs. 4 DSM-RL kann nur ausgelöst werden, wenn die Rechteinhaber die erforderlichen Informationen zur Verfügung gestellt haben. Dies verhindert eine ex ante Kontrolle aller Inhalte. Dies wird gestärkt durch das Verbot allgemeiner Ãœberwachungspflichten nach Art. 17 Abs. 8 DSM-RL (Rn. 89, 90; vgl. dazu auch Volkmann, CR 2019, 376 Rz. 21 ff.; Volkmann, „Filterpflichten nach Art. 17 EU-Urh-RL: Plädoyer für ein kohärentes Haftungssystem“, CRonline Blog v. 15.7.2019).
  • Durchsetzung:
    Flankiert werden die obligatorischen Schrankenbestimmungen durch verfahrensrechtliche Absicherungen nach Art. 17 Abs. 9 DSM-RL: Die Diensteanbieter müssen wirksame Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren über die Sperrung oder Entfernung von Inhalten vorsehen, insbesondere die Kontrolle durch natürliche Personen (Rn. 93 f.)

 

3. Deutscher Ansatz nach UrhDaG

Die subjektiven Rechte der Nutzer, gewisse Inhalte ohne Rechteeinholung hochzuladen, um zu zitieren, karikieren oder parodieren, werden aus der Meinungs-, Informations- und Kunstfreiheit abgeleitet. Sie müssen ungeachtet der Pflicht der Diensteanbieter, nicht lizenzierte Inhalte auf Verlangen der Rechteinhaber zu sperren, garantiert werden. Dies erfolgt u.a. materiellrechtlich durch §§ 5, 9, 10 UrhDaG, verfahrensrechtlich durch §§ 11 und 14 UrhDaG:

  • Gesetzliche Vermutung:
    § 10 UrhDaG führt quantitative Obergrenzen für Bagatellnutzungen ein, bei deren Vorliegen vermutet wird, dass die Voraussetzungen der Schrankenregelungen (§ 5 UrhDaG) erfüllt sind (geringfügige Nutzungen). Bis zum Abschluss des Beschwerdeverfahrens nach § 14 UrhDaG darf der Diensteanbieter die Inhalte nicht qualifiziert blockieren (durch Filtertechniken).
  • Pre-Flagging:
    Handelt es sich nicht um eine geringfügige Nutzung nach § 10 UrhDaG, muss der Diensteanbieter es dem Nutzer ermöglichen, den Inhalt als gesetzlich erlaubt zu kennzeichnen, bevor dieser blockiert wird, § 11 UrhDaG. Erfolgt diese Kennzeichnung des Nutzers, muss der Diensteanbieter nach § 9 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 UrhDaG den Inhalt bis zum Ende des Beschwerdeverfahrens nach § 14 UrhDaG öffentlich wiedergeben.

 

4. Unionsrechtliche Guidance für nationale Umsetzung?

Schwellenwerte für geringfügige Nutzungen wie zB in § 10 UrhDaG einzuführen, unterhalb derer eine Beschränkung des Urheberrechts wie das Zitatrecht naheliegt, befürwortete auch Generalanwalt Saugmandsgaard Øe in seiner Stellungnahme zur Nichtigkeitsklage Polens. (Generalanwalt Saugmandsgaard Øe C-401/19, ECLI:EU:C:2021:613 Rn. 211).

Streitstand:

  • Teilweise wird diese Ausgestaltung als grund- und unionsrechtlich zwingend betrachtet (Hofmann, ZUM 2020, 665, 670, Specht/Riemenschneider in: Dreier/Schulze, UrhDaG § 10 Rn. 3): Andernfalls drohe ein strategisches automatisiertes Overblocking von Inhalten, was zulasten der Kommunikationsfreiheiten der Nutzer ginge.
  • Teilweise wird die gesetzliche Vermutung im Hinblick auf den Vorrang der öffentlichen Wiedergabe der Inhalte vor Beendigung des Beschwerdeverfahrens aber auch kritisch betrachtet (Conrad/Nolte, ZUM 2021, 111, 120). Neben der Komplexität der Regelungen müsste der Rechteinhaber im Äußersten hinnehmen, dass ein offensichtlich urheberrechtswidrig hochgeladener Inhalt für eine Woche öffentlich zugänglich ist. Fraglich ist, welche Hinweise das EuGH-Urteil in dieser Frage gibt.

Kernaussagen des EuGH:

Der EuGH geht auf die Frage der Schwellenwerte, die Vermutungen zugunsten einer rechtmäßigen Nutzung auslösen, nicht ein. Ebenso wenig erörtert er die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Gewährleistung von Schrankenregelungen. Diese kann man

  • entweder als präventive Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt (wie es das UrhDaG vorsieht)
  • oder als präventives Verbot mit Erlaubnisvorbehalt

Unklar bleibt, ob auch eine eventuell sehr kurzfristige ex post-Kontrolle bereits gesperrter Inhalte auf eine etwaige Schrankennutzung ausreichend sein kann. Lediglich in Rn. 90 formuliert der EuGH:

„Diese Klarstellung [= Verbot allgemeiner Überwachungspflichten] bedeutet nämlich, dass die Anbieter dieser Dienste nicht verpflichtet sein können, das Hochladen und die öffentliche Zugänglichmachung von Inhalten zu verhindern, die sie im Hinblick auf die von den Rechteinhabern bereitgestellten Informationen sowie etwaige Ausnahmen und Beschränkungen in Bezug auf das Urheberrecht eigenständig inhaltlich beurteilen müssten, um ihre Rechtswidrigkeit festzustellen (vgl. entsprechend Urteil vom 3. Oktober 2019, Glawischnig-Piesczek, C‑18/18, EU:C:2019:821, Rn. 41 bis 46)“ (= CR 2019, 731 (733))

Zweifelhaft erscheint, daraus im Umkehrschluss eine positiv formulierte Pflicht der Mitgliedstaaten abzuleiten, Diensteanbieter dazu zu verpflichten, Inhalte, die im Hinblick auf das Greifen von Schrankenregelungen zu prüfen sind, bis zur abschließenden Prüfung öffentlich wiederzugeben (so aber wohl die Deutsche Gesellschaft für Freiheitsrechte  (siehe  Zillekens, Urheberrecht: Europäischer Gerichtshof verweist Uploadfilter in enge Schranken“ v. 26.4.2022). Zumindest scheint es nicht ausgeschlossen, dass eine ex-post Kontrolle von bereits gesperrten Inhalten durch natürliche Personen als ausreichend betrachtet werden kann.

 

5. Bewertung und Ausblick

Der EuGH geht auf die möglichen Ausgestaltungsmodelle bei der Gewährleistung von Schrankenregelungen nicht explizit ein. Dies war im Rahmen der Nichtigkeitsklage Polens auch nicht notwendig, da es ausschließlich um die Verhältnismäßigkeit des Art. 17 Abs. 4  DSM-RL ging.

Eine dem deutschen UrhDaG entsprechende Pflicht der Diensteanbieter, bis zum Abschluss der streitigen Prüfung einer Schrankenbestimmung die Inhalte öffentlich wiederzugeben, lässt sich als Pflicht des nationalen Gesetzgebers aus dem EuGH-Urteil nicht ableiten.

Ungeachtet dessen ist das starke verfahrensrechtliche Bekenntnis des deutschen UrhDaG zur Absicherung der Schrankenbestimmungen eine gesetzliche Wertungsentscheidung zugunsten der Meinungs- und Informationsfreiheit, die begrüßenswert ist.

Der EuGH hat auf den Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten bei Ausgestaltung der Pflichten der Diensteanbieter gem. Art. 17 Abs. 4 DSM-RL hingewiesen.

Bei der Frage, ob die Umsetzung durch die Mitgliedstaaten grundrechts- und richtlinienkonform erfolgte, orientiert sich der EuGH an den Grundrechten der EU-Grundrechtecharta und der Rechtsprechung des EGMR.

Im Rahmen möglicher Verfassungsbeschwerden gegen Regelungen des UrhDaG ist nach den vom BVerfG in der Entscheidung „Recht auf Vergessen I“ (BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019 – 1 BvR 16/13, CR 2020, 30) entwickelten Maßstäben zu prüfen, ob die deutschen Grundrechte allein Anwendung finden oder zusätzlich die EU-Grundrechtecharta und die Garantien der EMRK einbezogen werden müssen. In diesem Kontext ist es auch Aufgabe des BVerfG zu prüfen, ob eine Vorlage an den EuGH statthaft ist oder die entsprechenden Fragen bereits geklärt sind (BVerfG, Beschl. v. 6.11.2019 – 1 BvR 16/13, CR 2020, 30 (31 Rn. 67)).

 

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