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Sperren gegen russische Desinformation – Sanktionsrecht auf Abwegen?

avatar  Tobias Keber
Professur für Medienrecht und Medienpolitik in der digitalen Gesellschaft, Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart. Leiter des Bereichs Recht am Institut für Digitale Ethik (IDE) an der Hochschule der Medien und Lehrbeauftragter für Telemedien- und Internetrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zuvor Rechtsanwalt.

Sperren gegen russische Desinformation – Sanktionsrecht auf Abwegen?

Die Europäische Union hat aufgrund der militärischen Invasion Russlands in der Ukraine am 24.2.2022 Finanz- und Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor verhängt. Diese knüpfen zum Teil an einem Mechanismus an, der schon 2014 vor dem Hintergrund der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim beschlossen wurde. Verordnung (EU) 2022/350 hat Sanktionen, also Handlungen unter Ägide der Gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik (GASP) zum Gegenstand (Art. 23 bis 46 EUV). Ausgangspunkt ist jeweils ein Beschluss des Rates der Europäischen Union (Art. 28, 29 EUV), der durch einen Sekundärrechtsakt umgesetzt wird, hier als Verordnung im Sinne des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV (Art. 215, 288 AEUV).

In Art. 2f der VO 2022/350 geht der Rat mit Erlass einer Maßnahme, die als Desinformationsembargo bezeichnet werden könnte über das übliche Portfolio außenwirtschaftlichen Zwangs, also beispielsweise Beschränkungen der wirtschaftlichen Zusammenarbeit oder das Einfrieren von Vermögenswerten einzelner Personen, hinaus. Begründet wird die Maßnahme mit der Verfolgung außen- und sicherheitspolitischer Ziele, namentlich dem Vorgehen gegen russische Propaganda (vgl. ErwG 6-9 VO 2022/350). Der Sache nach geht es um ein neues informationsrechtliches Instrument, das die medien- und netzpolitische Community zu Recht rege diskutiert (vgl. dazu im Verfassungsblog Baade, Ferreau, Lehofer).

Ziel der Maßnahme

Außen- und sicherheitspolitisch legitimes Ziel sind Maßnahmen gegen Kriegspropaganda. Deutschland und die meisten EU-Mitgliedstaaten sind völkerrechtlich nach Art. 20 IPbpR verpflichtet, Kriegspropaganda durch Gesetz zu verbieten. Kriegspropaganda verstößt weiter gegen das Interventions- und ggfls. auch das Gewaltverbot (threat of force) der UN-Charta. In der Friendly Relations Declaration (UN GA RES/25/2625 v. 24.10.1970) dürften die Staaten das auch gewohnheitsrechtlich anerkannt haben. Neben Kriegspropaganda stellt ferner die Verbreitung „bloß“ destabilisierender Propaganda eine verbotene Intervention in die inneren Angelegenheiten eines Staates (domaine réservé) dar.

Völkerrechtlich nicht verboten dagegen ist „einfache“ Propaganda im internationalen Verkehr etwa dadurch, dass ein anderer Staat (sachlich) kritisiert wird. Soweit sich das Desinformationsembargo gegen russische Staatsmedien richtet, ließe sich eine Sperrung also grundsätzlich durchaus mit völkerrechtlichen Pflichten begründen.

Anwendungsbereich des Art. 2f VO 2022/350

Verordnung (EU) 2022/350 verbietet es in Art. 2f „Betreibern“, Inhalte von näher bestimmten Organisationen

„zu senden oder deren Sendung zu ermöglichen, zu erleichtern oder auf andere Weise dazu beizutragen, auch durch die Übertragung oder Verbreitung über Kabel, Satellit, IP-TV, Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder -Anwendungen, unabhängig davon, ob sie neu oder vorinstalliert sind.“

Im Anhang der Verordnung näher bestimmt werden die englisch-, deutsch-, französisch- und spanischsprachigen Inhalte von RT (Russia Today) sowie die Inhalte des Radiosenders und Nachrichtenportals Sputnik. Die Verordnung vom 1.3.2022 sieht also vordergründig ein Sende- und Verbreitungsverbot für Inhalte von RT + Sputnik vor. Das bedeutet, dass die Inhalte dieser Akteure nicht gesendet werden dürfen und auch europäische Rundfunkveranstalter Inhalte von RT + Sputnik nicht übernehmen und weiterverbreiten dürfen.

Adressat

Tatsächlich geht das Verbot aber, worauf u.a. Lehofer zu Recht hinweist, weit über ein lineares, also an der klassischen Verbreitung der Inhalte durch Rundfunk orientiertes Verständnis hinaus. Adressaten des Desinformationsembargos sind „Betreiber“, was weder in der VO noch andernorts unionsrechtlich abschließend definiert wird. Näher illustriert wird der Betreiberbegriff immerhin dadurch, dass explizit „Internetdienstleister, Internet-Video-Sharing-Plattformen oder –Anwendungen“ erfasst werden. Potentiell sind das sehr viele Akteure.

Art. 2f VO 2022/350 ist also vor allem mit Blick auf die Informationen nur vermittelnden Akteure (Access- und Host-Provider) untersuchenswert. Das betrifft Suchmaschinen wie Google ebenso wie YouTube, soziale Netzwerke wie Twitter oder Dienste, die wie die Telekom Deutschland GmbH die Internet-Konnektivität herstellen.

Smart Sanction?

Übergreifend muss man zunächst fragen, ob die in Art. 2f der VO angelegte Fiktion, (alle) Inhalte von RT und Sputnik enthielten entsprechende Formen unzulässiger Propaganda, überhaupt statthaft ist:

  • Argumentieren könnte man hier mit dem Effizienzgebot im Sanktionsrecht und der These, dass eine Prüfung der Inhalte entbehrlich sein muss.
  • Andererseits könnte man für einen Moment unterstellen, dass sich die Europäische Union und die Russische Föderation (faktisch) in einem „Informationskrieg“ befinden. Weiter unterstellt, diese völkerrechtlich bis dato nicht ausbuchstabierte Form eines internationalen „semantischen“ Konflikts orientierte sich ebenso an Grundsätzen des hergebrachten Kriegsrechts, wäre über die Implikationen des Unterscheidungsgebots nachzudenken. Im militärischen Konfliktfall sind unterschiedslose, d.h. keine Differenzierung zwischen Zivilisten und Kombattanten anstellende Angriffe unzulässig. Ãœberträgt man das auf „kämpfende“ Inhalte, müsste man der unzulässigen Propaganda unverdächtige Inhalte schonen, was aber eine durchgängige oder zumindest stichprobenartige Prüfung aller Inhalte bedeutete, die in VO 2022/350 nicht angelegt ist.

Proportionate Sanction?

Als „smart“ kann man eine Sanktion weiter dann bezeichnen, wenn sie einerseits geeignet ist, tatsächlich Einflussnahme auf das Verhalten eines Staates zu haben und andererseits nachteilige Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte so weit wie möglich minimiert. Es geht also um Verhältnismäßigkeit. Insoweit müsste man schon kritisch fragen, wie weit das wohl eher nach innen wirkende Desinformationsembargo (wenigstens auch) außenpolitisches Beugepotential hat.

Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wirft dann weitere schwierige Fragen auf. Ist das Desinformationsembargo hinreichend präzise bestimmt? Wird eine Polit-Influencerin nun außenwirtschaftsrechtlich sanktioniert, wenn sie den Originalwortlaut der Rede des russischen Staatspräsidenten vom 22.4.2022 (die auch von RT verbreitet wurde) zitiert und anschließend kritisch kommentiert? Welche Implikationen haben die europäischen Grundrechte, namentlich die Eigentums- und unternehmerische Freiheit der Informationsvermittler und was ist mit ihrer, sowie der Informationsfreiheit der Nutzerinnen und Nutzer?

Rolle der Informationsvermittler im „Informationskrieg“

Für Access-Provider bedeutet das Desinformationsembargo, dass sie Websperren implementieren müssen. Tatsächlich ist beispielsweise die Webseite von „rt.com“ aus den meisten Netzen heraus derzeit nicht verfügbar. Solche Websperren können bekanntlich IP- oder DNS-basiert umgesetzt werden. Der österreichische Kommunikationsanbieter A1 hatte es anfangs mit Hinweis auf die Verpflichtung zur Netzneutralität noch abgelehnt, Websperren zu implementieren. Davon ist man aber zwischenzeitlich abgerückt. Tatsächlich wird man die VO 2022/350 als ausnahmsweise legitimierte Verkehrsmanagementmaßnahme im Sinne des Art.3 Abs.3 UAbs.3 lit. a VO (EU) 2015/2120 (NetzneutralitätsVO) ansehen müssen.

Soweit ersichtlich begründen Provider die Sperre von rt.com hierzulande derzeit mit § 7 Absatz 3 TMG i.V.m. VO 2022/350, die als allgemeines Gesetz im Sinne der Vorschrift gewertet werden kann. Problematisch ist dann aber, was mit dem Tatbestandsmerkmal „aufgrund einer gerichtlichen oder behördlichen Anordnung“ passiert, denn die VO 2022/350 ist unmittelbar anwendbar. Ausweislich der Gesetzesbegründung zu § 7 Abs. 3 TMG sollte das Erfordernis sicherstellen, dass eine Interessenabwägung im Einzelfall erfolgt (BT. Drs. 18/12202, S. 11), was hier aber nicht erfolgt. 7 Absatz 4 TMG, der für urheberrechtlich begründete Websperren und damit auch der Empfehlungen der Clearingstelle Urheberrecht im Internet (CUII) von Bedeutung ist, spielt als Rechtsgrundlage öffentlich-rechtlich determinierter Desinformationssperren keine Rolle.

Suchmaschinen sind durch das Desinformationsembargo russischer Staatsmedien gehalten, die Suchergebnisse anzupassen (Delisting). Die Pflicht von Suchmaschinenbetreibern, bestimmte Inhalte auszulisten und wie weit diese Pflicht reicht, wurde in der europäischen Rechtsprechung unter Ägide des Rechts auf Vergessenwerden bereits diskutiert (dazu EuGH, Google LLC. v. CNIL, C-507/17).

Social Media: Besonders diffizil ist, wie weit auch einzelne Social-Media Angebote dem Sanktionsmechanismus unterworfen sind:

Die Plattformen selbst (bspw. Twitter) müssen Verbreitungshandlungen unterlassen, was zunächst die offiziellen Twitterkanäle der sanktionierten Staatsmedien betrifft. Diese Accounts sind zu sperren, bzw. zu suspendieren. Eine Weiterverbreitung der Inhalte der sanktionierten Entitäten kann aber auch durch andere Accounts erfolgen. Deren Verfolgung führt dann wohl zu proaktiven Überwachungspflichten, die mit dem telemedienrechtlichen Providerprivileg in seiner derzeitigen Ausgestaltung (§ 7 Abs. 2, §§ 8, 10 TMG; Art. 15 Abs. 1, 12, 14 der E-Commerce-Richtlinie) kollidieren (keine abschließende Lösung zu dieser Frage in EuGH C-18/18, Glawischnig-Piesczek v Facebook Ireland Limited).

Private Accounts: Der breite Anwendungsbereich der VO wirft auch die Frage auf, wie weit private Social Media Auftritte europäischer NutzerInnen, die Inhalte von RT oder Sputnik weiterleiten (bspw. retweeten), sanktioniert werden können. Dass es sich bei diesen Accounts um „Betreiber“ im Sinne der VO 2022/350 handelt, kann man verneinen, wenn man insoweit zumindest ein nachhaltiges, über den ausschließlich familiären Kreis hinausgehendes Tätigwerden verlangt. Reichweitenstarke, professionell tätige InfluencerInnen werden demgegenüber sehr wohl erfasst und können neben den parallel verantwortlichen Plattformen sanktioniert werden, wenn sie Inhalte von RT oder Sputnik weiterverbreiten. Das Erfordernis eines haftungsbegründenden „Zu-eigen-machens“ im Sinne der Rspr. des BGH (Urteil vom 12. November 2009 – I ZR 166/07 – marions-kochbuch.de) bedarf es nach dem Wortlaut der VO 2022/350 jedenfalls nicht.

Rolle der Landesmedienanstalten

Unterstellt, die untersuchten Akteure implementierten entgegen ihren dargestellten Pflichten keine Sperr- bzw. Löschmaßnahmen. Wer setzte das Recht durch? Sperrverfügungen gegen Access-Provider könnten über § 109 MStV begründet werden. Mit den Landesmedienanstalten, die so gerade den Jugendmedienschutz gegen nicht hinreichend altersverifizierende Pornoportale verteidigen, stünden auf den ersten Blick auch berufene Durchsetzungsorgane zur Verfügung. Wenn es bei dem Desinformationsembargo gegen russische Staatsmedien um klassische Medienregulierung ginge, wäre die staatsferne Organisation dieser Aufsichtsstrukturen tatsächlich angemessenes Moment. Für die Beurteilung der Effizienz einer Sanktion und die Durchsetzung außen- und sicherheitspolitischer Maßnahmen begründet Staatsferne allerdings das genaue Gegenteil einer Kompetenzzuweisung.

Rechtsschutz gegen das Desinformationsembargo

Rechtsschutz gegen GASP-Wirtschaftssanktionen gibt es, wobei zu unterscheiden ist, ob Betroffene direkt gegen die Verordnung vorgehen wollen (Nichtigkeitsklage vor dem EuG, Art. 263 Abs. 4 AEUV), oder eine außenwirtschaftsrechtliche Umsetzungsmaßnahme (Bußgeld, Strafe) gerichtlich überprüft werden soll, wobei das dann angerufene Instanzgericht die Rechtssache gegebenenfalls dem EuGH vorlegen müsste (Art. 267 AEUV). Die sanktionsrechtliche Judikatur des EuG sowie des EuGHs zu einzelnen Aspekten der zum Teil bereits 2014 etablierten Maßnahmenpakete kann wohl man dahingehend zusammenfassen, dass der Union ein weiter Beurteilungsspielraum eingeräumt wird, der sich sowohl auf den Grad erforderlicher Bestimmtheit als auch auf die Verhältnismäßigkeit bei der Grundrechtsprüfung auswirkt (vgl. EuGH, Rechtssache C‑72/15, Entscheidung v. 28.3.2017, Rosneft; EuG, 15.6.2017 – T-262/15, Kiselev / Rat).

Namentlich die im Fall Kiselev./. Rat vom EuG geprüften Implikationen der Meinungs- und Informationsfreiheit haben nicht zu durchgreifenden Bedenken gegen die Maßnahmen geführt. Neue Erkenntnisse könnte insoweit nun das Verfahren von Russia Today Frankreich gegen das aktuelle Desinformationsembargo liefern, eine Entscheidung in der Sache steht aber noch aus (EuG, T-125/22. Den Erlass einer einstweiligen Anordnung hat das Gericht am 30.3.2022 abgelehnt).

Ausblickeine Clearingstelle gegen destabilisierende Propaganda und Desinformation im Internet?

Was nun? Das Desinformationsembargo muss sowohl im Lichte des sanktionsrechtlichen Effizienzgebots als auch grundrechtskonform ausgelegt werden. Bei den Akteuren, die fremde Informationen lediglich vermitteln, ist das besonders heikel. Man könnte insoweit –leicht modifiziert- einen Gedanken fruchtbar machen, den das BVerfG am 15. Januar 1958 in seinem berühmten Lüth-Urteil formuliert hat:

„Im Zweifel für den free flow of information.“

Langfristig wird man sich national wie international um eine definitorische Schärfung der Begriffe „Kriegspropaganda“, „Propaganda“ und „Desinformation“ bemühen und fragen müssen, ob man es beim bestehenden System belassen kann, oder ob weitere informationsregulierende Maßnahmen erforderlich sind. Gelegenheit dazu bieten unter anderem der künftige Digital Services Act, der Media Freedom Act und / oder eine Weiterentwicklung des EU Code of Practice on Desinformation.

Politisch wird man sehr genau abwägen müssen, wie weit man sich in Ansehung der verhängten Informationssperren einem „tu quoque“-Einwand aussetzen will. Autokraten zensieren, freiheitliche Demokratien nicht, oder? So zu fragen, ist freilich gefährlich unterkomplex, denn es bedeutet, dass eine Gesellschaft jedwede Information „aushalten“ müsste. Sie muss es nicht, wie die parallel geführte Debatte um Hate Speech zeigt. Die internationale Gemeinschaft muss Kriegspropaganda nicht aushalten, aber was das genau ist und wer für ihre Weiterverbreitung verantwortlich gemacht werden kann, muss viel differenzierter ausbuchstabiert werden, als dies in VO 2022/350 erfolgt.

Gedanklich läge vor diesem Hintergrund so etwas wie eine Clearingstelle gegen destabilisierende Propaganda und Desinformation im Internet nahe.

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