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avatar  Christian Franz, LL.M.
Rechtsanwalt, Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz

Der Bundesgerichtshof hat einer Ärztin, die auf der Bewertungsplattform Jameda unflätig angegangen wurde, einen Löschungsanspruch versagt. Und an dieser Stelle hört das Urteil auf. Warum das falsch ist:

„Arrogant, unfreundlich, unprofessionell“ – wer das über sich selbst lesen muss, wird erstmal nicht erfreut sein. Erst recht ist es ärgerlich, wenn so eine Beschimpfung von einem gut auffindbaren Online-Plattformbetreiber öffentlich verbreitet wird, um sich zu bereichern. Es liegt daher nahe, dass man ihn auffordert, Vergleichbares künftig zu unterlassen. So verfuhr auch eine Ärztin, die auf der „Ärztebewertungsplattform“ Jameda in geschilderter Weise herabgewürdigt worden war.

Diese Plattformen sollen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs einem öffentlichen Interesse dienen, weil sie der unabhängigen Information der Öffentlichkeit über die Qualität der Leistungen von Unternehmen dienen (so ebenfalls zu „Jameda“ bereits BGH, Urteil vom 23.9.2014, VI ZR 358/13, Rn 47 m.w.N.).

Auf gleicher Linie, nun aber unter Geltung der DSGVO, liegt das hier besprochene Urteil des BGH vom 15.2.2022, VI ZR 692/20. Dabei überrascht den geneigten Äußerungsrechtler bereits das Gewicht, dass der BGH in nun ständiger Rechtsprechung dem Interesse der Öffentlichkeit an den Bewertungen beimisst. Es ist nämlich der gleiche BGH, der sich seit Jahr und Tag mit dem Phänomen auseinandersetzt, dass Bewertungen im ganz überwiegenden Teil der Fälle manipuliert werden, nämlich entweder durch die Bewerteten selbst (s. etwa BGH, Urteil vom 21.1.2016, I ZR 252/14) oder Dritte, die sich – meist nicht mal als Kunden – aus irgendwelchen im Dunklen bleibenden Motiven an dem Bewerteten abarbeiten wollen. Häufig sind das Konkurrenten oder ihre Mitarbeiter.

Die Aussagekraft von „Internetbewertungen“ liegt damit nahe Null und damit einher geht ein vergleichbar geringfügiges berechtigtes Interesse der Allgemeinheit an ihrer Wahrnehmung. Gerade Plattformen mit einem offenen Bewertungssystem – es wird nicht einmal geprüft, ob der Bewertung überhaupt ein Patientenkontakt zugrunde lag – sind besonders anfällig für Betrug und gehässige Schädigungen um ihrer selbst Willen. Das hat auch das Bundeskartellamt in einer Sektoruntersuchung gerade in Bezug auf Jameda festgestellt und als Problem erkannt (s. Bundeskartellamt, Sektoruntersuchung Nutzerbewertungen, S. 95). Bestenfalls sind Bewertungen daher lustig, wie der Bundesgerichtshof eigentlich aus eigener Anschauung beurteilen können müsste, wenn er mal bei Google nach sich selbst suchte:

Die in derartigen Fällen stets erforderliche Abwägung widerstreitender Grundrechte durch den Bundesgerichtshof krankt danach an einer falschen Bestimmung der faktischen Grundlagen und kann folglich möglicherweise im Ergebnis, keinesfalls aber inhaltlich richtig sein. Allerdings: Als Rechtsanwender findet man den Bundesgerichtshof vor. Alles Lamento nützt nichts; auch mit Brüchen und offenen Widersprüchlichkeiten wie der Rechtsprechung zu Bewertungsportalen muss man daher leben lernen.

Bemerkenswert ist die jüngste Schadensvertiefung daher auch nur wegen dem, was der Bundesgerichtshof nicht sagt – und darauf soll hier hingewiesen werden. War im Jahr 2014 das Datenschutzrecht noch ein Orchideenfach, das im Schatten des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts mitverhandelt wurde, konnte der Bundesgerichtshof im Jahr 2022 nicht umhin: Die Datenschutzgrundverordnung (nicht: Datenschutz-Gruppenfreistellungsverordnung, wie die falsche Abkürzung des BGH mit Bindestrich [„DS-GVO“] suggeriert) regelt alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, und so auch die Frage der Zulässigkeit von Onlinebewertungen. Folgerichtig hatte die Ärztin ihr Begehr auch in einen datenschutzrechtlichen Anspruch gewandet, nämlich den auf Löschung nach Art. 17 DSGVO. Es folgte ein klassisches Wiederholungsspiel. Der BGH wägt ein bisschen ab und erkennt: Allen Unkenrufen zum Trotz ist auch die Verarbeitung personenbezogener Daten grundrechtlich geschützt. Und zwar so weit, dass das Interesse an der Datenverarbeitung im Zweifel gegenläufigen Interessen des Betroffenen vorgeht, wie sich aus Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO ergibt. Wegen des bereits zitierten Missverständnisses des Wesens von Onlinebewertungen wird dem Löschungsbegehren der Erfolg versagt.

Es ist erstaunlich, dass der Bundesgerichtshof, wie schon das OLG Frankfurt als Vorinstanz, an dieser Stelle stehen bleibt. Anträge bei Gericht sind nämlich auszulegen. Das bedeutet, dass der wirkliche Wille eines Klägers zu erforschen und nicht am Wortlaut zu haften ist. Die §§ 133, 157 BGB sind insoweit entsprechend heranzuziehen (beispielhaft BAG, Urteil vom 17.3.2015, 9 AZR 702/13). Nach dieser Maßgabe hätte der Bundesgerichtshof auf den Gedanken kommen müssen, dass das Begehren der Klägerin zugleich als Widerspruch i.S.d. Art. 21 Abs. 1 DSGVO aufgefasst werden kann. Denn tatsächlich ist die ausdrücklich beantragte Löschung ja genau darauf gerichtet: Die Klägerin möchte verhindern, dass sie künftig öffentlich auf der Plattform aufgefunden und bewertet wird und greift damit maßgeblich die künftige, nicht die vergangene Verarbeitung an. Vor allem interessiert sie nicht, ob die Daten von der Beklagten in irgendeiner Form vorgehalten (also: gespeichert) werden; es ist der Online-Pranger, den sie abgeschaltet wissen will.

Der Bundesgerichtshof wäre auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Bindung an die Parteianträge nach § 308 ZPO daran gehindert gewesen, das wirkliche Begehren der Klägerin zu erforschen, denn er hat es erkannt und seiner eigenen Abwägung zugrunde gelegt. Ausdrücklich führt er aus, dass die Klägerin durch Bewertungen durchaus beeinträchtigt sein könne. Das liegt auch auf der Hand.

Damit ist klar, dass die Rechtmäßigkeit der Verarbeitung auch unter dem Gesichtspunkt eines Widerspruchs der Klägerin hätte geprüft werden müssen. Wäre ihr danach zu helfen gewesen? Blendet man die eigentümliche Einschätzung des BGH zum Wert derartiger Racheportale einmal aus, hätte sich hier die Gelegenheit für die Diskussion einer spannenden und ungeklärten Rechtsfrage ergeben. Art. 21 Abs. 1 DSGVO gewährt dem Betroffenen ein Widerspruchsrecht nämlich nur unter dem Vorbehalt, dass er Gründe anführen kann, die sich „aus seiner besonderen Situation ergeben“. Der Umstand, dass der Text der DSGVO von den Teilnehmern eines sozialpädagogischen Proseminars zunächst getanzt und erst dann in die Sprachen der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union übersetzt wurde, schlägt hier wieder voll durch. Was soll mit dieser Einschränkung des Widerspruchsrechts wohl gemeint sein? In der Literatur herrscht der Eindruck vor, man könne sie jedenfalls nicht ignorieren; es handele sich schon irgendwie um ein echtes Tatbestandsmerkmal (s. Martini in: Paal/Pauly, DS-GVO BDSG, 3. Auflage 2021, Art. 21 Rn. 29 ff.). In Abgrenzung zu der doch gerade eben geschehenen Abwägung der widerstreitenden Interessen im Rahmen von Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO seien hier aber andere Maßstäbe anzulegen. Die Interessenabwägung nach Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO folge einem „objektivierten“ Maßstab; nunmehr sei erstmals den individuellen Umständen des Betroffenen Rechnung zu tragen (s. Spindler/Dalby in: Spindler/Schuster, Recht der elektronischen Medien, 4. Auflage 2019, Art. 21 Rn. 7).

Überzeugend ist insbesondere Letzteres nicht: Schon Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO stellt auf die konkrete Person des Betroffenen und nicht auf einen irgendwie „objektivierten“ Maßstab ab, wie sich schon daraus ergibt, dass bei der Abwägung ausdrücklich berücksichtigt werden soll, ob „es sich bei der betroffenen Person um ein Kind handelt“. Das ist denknotwendig nur möglich, wenn man die Kiste mit Schrödingers Katze öffnet und das Individuum selbst betrachtet, nicht eine objektivierte Fiktion seiner selbst.

Regelungstechnisch verkehrt Art. 21 Abs. 1 DSGVO die Wertung des Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO in ihr Gegenteil. Galt dort noch der Vorrang des Verarbeiterinteresses, soll nunmehr das Betroffeneninteresse vorgehen. Kommt man richtigerweise zu dem Schluss, dass sich das Tatbestandsmerkmal der „besonderen Situation“ auch bei größter Geistesanspannung nicht mit Sinn füllen lässt, die Existenz des Art. 21 Abs. 1 DSGVO und der darin zum Ausdruck kommende Wille des sozialpädagogischen Proseminars (vulgo: des Verordnungsgebers) aber auch nicht ignoriert werden kann, ist zu erforschen, welche situativen Unterschiede ein anderes Abwägungsergebnis im Fall eines Widerspruchs begründen könnten.

Das Ergebnis liegt auf der Hand: Es ist die Willensbekundung des Betroffenen; der Widerspruch selbst. Und in der Tat ist es ein wertungsmäßiger Unterschied, ob eine Verarbeitung dem Betroffenen egal ist und daher entweder mit oder ohne seinen Willen geschieht, oder ob er sich aktiv dagegen zur Wehr setzt. Im Presse- und Telemedienrecht wird diesem Willen seit rund 150 Jahren durch das Institut des Gegendarstellungsrechts Rechnung getragen, um einen Ausgleich herbeizuführen. Dabei wird jemandem, der Gegenstand öffentlicher Berichterstattung ist, das Recht zugestanden, die Veröffentlichung einer Gegendarstellung in Bezug auf tatsächliche Behauptungen über seine Person an gleicher Stelle und in gleicher Aufmachung zu verlangen. Dabei ist es irrelevant, ob der Bericht oder die Gegendarstellung für sich beanspruchen können, wahr zu sein (!). Befasst man sich mit der historischen Begründung – und der Gegendarstellungsanspruch wurde erstmals bereits im Reichspressegesetz von 1874 geregelt -, stößt man auf Erstaunliches. Der Gesetzgeber geht davon aus, es sei Ausfluss des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts, darüber mitbestimmen zu können, wie man in der Öffentlichkeit dargestellt und wahrgenommen werde. Mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts:

„Sie [die Regelungen zur Gegendarstellung in den Landespressegesetzen, d. Verf.] haben ihre Wurzel in Reichweite und Einfluß der Presseberichterstattung, der der Betroffene, dem seine Angelegenheiten unzutreffend dargestellt scheinen, in der Regel nicht mit Aussicht auf dieselbe publizistische Wirkung entgegentreten kann. Zum Ausgleich dieses Gefälles obliegt dem Gesetzgeber eine aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht folgende Schutzpflicht, den Einzelnen wirksam gegen Einwirkungen der Medien auf seine Individualsphäre zu schützen (vgl. BVerfGE 73, 118 [201] = NJW 1987, 239).

(BVerfG, Beschluss vom 14.1.1998, 1 BvR 1861/93 u. a.)

Nun wollen wir nicht vergessen: Recht auf Vergessen II (BVerfG, Beschluss vom 6.11.2019, 1 BvR 276/17). Die gehaltvollen Äußerungen der presserechtlichen Rechtsprechung sind nicht unmittelbar auf eine Prüfung der DSGVO übertragbar. Maßstab ist nicht das Grundgesetz, sondern (primär) die Grundrechtecharta. Gerade die hier wesentlichen Elemente des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts finden sich dort jedoch nicht nur explizit wieder; sie sind zum Teil sogar die Grundlage der Existenz der DSGVO selbst: Menschenwürde (Art. 1 GRChr), das Recht auf Achtung der Privatheit und der Kommunikation nach Art. 7 GRChr. und die Meinungsäußerungsfreiheit nach Art. 11 GRChr.

Das spricht prima facie für eine Übertragbarkeit des Rechtsgedankens, der dem presserechtlichen Gegendarstellungsanspruch zugrunde liegt: Es ist ein Gebot der materiellen Gerechtigkeit, demjenigen, der von einer Publikation mit großer öffentlicher Reichweite betroffen ist, einen Ausgleich zu gewähren, weil er der Reichweite andernfalls nichts entgegensetzen könnte.

Er schrie im Vakuum.

Geht man von diesem Gedanken aus, ergibt die Existenz des Art. 21 Abs. 1 DSGVO trotz des drolligen Wortlauts plötzlich Sinn: Der Willensäußerung eines Betroffenen ist bei einer Verarbeitung, die auf ein berechtigtes Interesse gestützt wird, erhebliches Gewicht beizumessen. Das kann dazu führen, dass eine Abwägung, die zuvor nach Art. 6 Abs. 1 f) DSGVO noch zugunsten des Verarbeiters ausgefallen ist, nunmehr zu seinen Lasten ausgeht. Das ist zwar eine unbefriedigende, da binäre Lösung und keineswegs vergleichbar abgewogen wie das Institut des presserechtlichen Gegendarstellungsanspruchs. Aber so ist das mit der DSGVO. Und es ist eine Lösung, und an der Erforderlichkeit eines Ausgleichs gerade bei Sachverhalten wie dem Vorliegenden kann kein vernünftiger Zweifel bestehen. Hier wird nämlich das Defizit, das sich aus der Waffenungleichheit zwischen reichweitestarkem Racheportal und Heilerin ergibt, besonders plastisch deutlich.

Wie wäre danach im vorliegenden Fall zu entscheiden gewesen, hätte die Prüfung nicht auf halber Strecke geendet? Man wird einstellen müssen, dass das Racheportal keinen Schutz als Presseorgan beanspruchen kann und zugleich kaum spürbar dadurch belastet würde, gerade die Daten der Klägerin von der Website zu entfernen. Auch gibt es kein berücksichtigungsfähiges Interesse daran, in der Öffentlichkeit als objektives und vollständiges Abbild der Wahrheit wahrgenommen zu werde, weil all das nicht auf das Racheportal zutrifft. Wer dort veröffentlicht, hat entweder ein Hühnchen zu rupfen, ist ein Konkurrent oder steht umgekehrt auf der Payroll des Bewerteten (Ausnahmen bestätigen die Regel). Warum daher – wie der BGH meint – das Interesse, ein möglichst vollständiges Bild der gesamten Ärzteschaft Deutschlands geben zu können, schutzwürdig sein soll, ist nicht ersichtlich.

Dem steht die Wertung der DSGVO gegenüber, die in Fällen der Veröffentlichung von Daten dem Willen des Betroffenen im Zweifel Vorrang einräumt, wenn er widerspricht.

Nach alldem kann man nur hoffen, dass die Ärztin mal ein Stockwerk höher nachfragt. Bei zutreffender Auslegung der Grundrechtecharta – und in der Folge der DSGVO – kann das Urteil des Bundesgerichtshofs keinen Bestand haben.

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