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Konzeptionelle Defizite der Clearingstelle Urheberrecht im Internet (CUII) – Teil 2: Präzisierungsbedarf und fehlende Methodentransparenz beim Overblocking

avatar  Tobias Keber
Professur für Medienrecht und Medienpolitik in der digitalen Gesellschaft, Hochschule der Medien (HdM) Stuttgart. Leiter des Bereichs Recht am Institut für Digitale Ethik (IDE) an der Hochschule der Medien und Lehrbeauftragter für Telemedien- und Internetrecht an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Zuvor Rechtsanwalt.

In Teil 1 des Beitrags zur im Januar diesen Jahres gegründeten Clearingstelle Urheberrecht im Internet wurde unter anderem die fehlende Einbindung der Internetnutzer:innen in den Prozess um DNS-Sperren sowie die fehlende Gremientransparenz kritisiert. Im nachfolgenden Teil 2 des Beitrags soll es um die Frage gehen, wie innerhalb der Selbstkontrolleinrichtung der Internetdienstanbieter und Rechteinhaber mit dem Problem des Overblockings umgegangen wird.

V. DNS-Sperren und Overblocking nach der Rechtsprechung

Wie in Teil 1 des Beitrags beim rechtlichen Hintergrund bereits beschrieben, knüpft die CUII bei ihrem Prüfverfahren an den in der Rechtsprechung bis dato herausgearbeiteten Grundsätzen an, so dass zunächst diese mit besonderem Blick auf Overblocking zu rekapitulieren sind.

Ansatz des EuGH:

Der EuGH formuliert in Sachen UPC Telekabel Wien in Randnummer 57 folgende Orientierungspunkte:

„Dabei müssen die Maßnahmen, die der Anbieter von Internetzugangsdiensten ergreift, in dem Sinne streng zielorientiert sein, dass sie dazu dienen müssen, der Verletzung des Urheberrechts oder eines verwandten Schutzrechts durch einen Dritten ein Ende zu setzen, ohne dass Internetnutzer, die die Dienste dieses Anbieters in Anspruch nehmen, um rechtmäßig Zugang zu Informationen zu erlangen, dadurch beeinträchtigt werden. Andernfalls wäre der Eingriff des Anbieters in die Informationsfreiheit dieser Nutzer gemessen am verfolgten Ziel nicht gerechtfertigt.“

In Randnummer 63 des Urteils wird weiter präzisiert:

„dies setzt allerdings voraus, dass sie zum einen den Internetnutzern nicht unnötig die Möglichkeit vorenthalten, in rechtmäßiger Weise Zugang zu den verfügbaren Informationen zu erlangen, und zum anderen bewirken, dass unerlaubte Zugriffe auf die Schutzgegenstände verhindert oder zumindest erschwert werden und dass die Internetnutzer, die die Dienste des Adressaten der Anordnung in Anspruch nehmen, zuverlässig davon abgehalten werden, auf die ihnen unter Verletzung des Rechts des geistigen Eigentums zugänglich gemachten Schutzgegenstände zuzugreifen.“

Ansatz des BGH:

Diese Vorgaben hat der BGH in Sachen Goldesel (Rn. 55) dann so gelesen, dass

„deshalb nicht auf eine absolute Zahl rechtmäßiger Angebote auf der jeweiligen Seite, sondern auf das Gesamtverhältnis von rechtmäßigen zu rechtswidrigen Inhalten abzustellen und zu fragen [ist], ob es sich um eine nicht ins Gewicht fallende Größenordnung von legalen Inhalten handelt“

Während die Vorinstanz (OLG Köln, 18. Juli 2014, I-6 U 192/11) noch intensiv erwogen hatte, ob (wie weit) nicht ein qualitativer Ansatz (welche verschiedenen Kategorien von Informationen gibt es auf einer Plattform? Muss man entsprechend weiter differenzieren?) für die Betrachtung maßgeblich sein sollte, spricht sich der BGH für ein quantitatives Modell aus. Die im Ausgangsverfahren von der Klägerseite vorgetragenen lediglich 4% legaler Inhalte stehen nach Auffassung des BGH der Zumutbarkeit von Sperrmaßnahmen jedenfalls dann nicht im Wege (BGH, Goldesel, Rn. 56) wenn Nutzer:innen nach Bekanntwerden der vom Anbieter getroffenen Maßnahmen Möglichkeiten zur Beschwerde haben.

Unklarheiten jenseits der 4%-Linie

Wie weit abseits der 4% Linie kann die angeblich jeweils im Einzelfall anzustellende Bewertung dynamisch im (maximal einstelligen?) Prozentbereich verschoben werden? Ist dies (auch) davon abhängig, wie leicht und effizient Nutzer:innen Beschwerden einlegen können? Weder die Rechtsprechung des EuGHs, noch auf nationaler Ebene die kasuistischen Vorgaben des BGH zur Störerhaftung oder § 7 Absatz 4 Satz 2 TMG nebst Gesetzesbegründung enthalten einigermaßen einheitliche, operationalisierbare Vorgaben zu einer gegebenenfalls zulässigen Overblocking-Rate. Insoweit besteht also ein erhebliches Konkretisierungsdefizit.

VI. Die Empfehlung S.to der CUII und Overblocking

Mit Blick auf das Overblocking-Problem macht sich die CUII in ihrer Verfahrensordnung den quantitativen Ansatz des BGH zu eigen, wobei auch hier weder eine absolute, noch eine (in Abhängigkeit zu weiteren Kriterien) relative Obergrenze näher festgelegt wird. Zwingend durch den EuGH vorgegeben ist eine quantitative Bestimmung jedenfalls nicht, im Gegenteil lässt der Gerichtshof ausdrücklich offen, mit welchem methodischen Ansatz sichergestellt werden kann, dass Internetnutzern nicht unnötig die Möglichkeit vorenthalten wird, in rechtmäßiger Weise Zugang zu den verfügbaren Informationen zu erlangen (UPC Telekabel Wien Rn. 63. Vgl dazu auch Stadler).

In der Empfehlung S.to vom 22.2.2021 der CUII finden sich lesenswerte Ausführungen zum Overblocking auf Seite 8. Allgemein heißt es dort zunächst:

Danach stehen legale Inhalte, die auf der Website öffentlich wiedergegeben werden, einer Einordnung als strukturell urheberrechtsverletzende Website nicht entgegen. Legale Inhalte sind auf der Website im Verhältnis zu rechtswidrigen Inhalten nur in einem nicht ins Gewicht fallenden Ausmaß vorhanden.

Dann wird es (scheinbar) präziser:

„Die Antragstellerin hat einen statistischen Analysebericht vorgelegt, der eine Stichprobe von 100 untersuchten Titeln aufweist. Aus diesem Analysebericht folgt, dass mit 99%iger Sicherheit der Anteil, der auf der in Rede stehenden Website verfügbaren Inhalte wahrscheinlich urheberrechtlich geschützt ist, zwischen 94,84 % und 100 % liegt. Außerdem ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Anteil 90 % oder mehr beträgt, sehr nahe bei 100 %. Dagegen ist die Wahrscheinlichkeit, dass er unter 90 % liegt, mit einer Wahrscheinlichkeit von 0,00239 sehr gering. Es besteht daher eine ganz überwiegend hohe Wahrscheinlichkeit, dass die auf der fraglichen Website verfügbaren Inhalte in großer Mehrheit kommerziell vertrieben werden oder auf Basis anderer Hinweise wahrscheinlich urheberrechtlich geschützt sind (Anlage II 3).“

Methodische Defizite

Auf den ersten Blick scheint bereits eine Stichprobe von n=100 gegenüber der mutmaßlich hohen Gesamtanzahl der Angebote äußerst gering. Methodisch ist das aber so lange unproblematisch, als die Auswahl (wirklich) zufällig erfolgt. Basierend hierauf lässt sich dann eine Signifikanzprüfung anstellen, wie sie im Fall S.to durchgeführt wurde. Archimedischer Punkt ist dann aber die wissenschaftlich belastbare Zufälligkeit der Stichprobenauswahl, die üblicherweise in einem „Technical Report“ ausführlich zu begründen und zwingend auch zu veröffentlichen ist. Nur so ist transparent, ob das Ergebnis der Signifikanzprüfung überhaupt valide ist.

Ob die in der Empfehlung zitierte Anlage II 3 insoweit Belastbares enthält, lässt sich nicht sagen, da das Dokument unveröffentlicht und seine Veröffentlichung seitens der CUII auch nicht vorgesehen ist. Die scheinbar präzisen Ausführungen der CUII zu einem nicht ins Gewicht fallenden Ausmaß des Overblockings leiden damit zumindest an fehlender Methodentransparenz. Zwar obliegt diese originär (zunächst nur) der die Stichprobe durchführenden Antragstellerin. In der Empfehlung müsste doch aber wenigstens nachvollziehbar dargelegt werden, wie weit und warum der Prüfausschuss der Methodik des statistischen Analyseberichts folgt. Weder wird die Anzahl der Gesamttitel auf der bezeichneten Seite genannt, so dass die Öffentlichkeit (Nutzer:innen) ein Verhältnis zur Stichprobengröße nachvollziehen kann, noch erschließt sich, worauf die Annahme „mit 99%iger Sicherheit, dass der Anteil der „wahrscheinlich urheberrechtlich gestützten“ Inhalte zwischen 94,84% und 100% liegt“ basieren soll. Luzider ist diesbezüglich auch die neuerlich veröffentlichte Empfehlung 2/2021 „CANNA.TO“ der CUII nicht. Die Verhältnismäßigkeitsanalyse dort kommt mit drei Sätzen und dem schlichten Hinweis auf „anerkannte statistische Methoden“ aus.

VII. Nachbesserungsbedarf: die CUII als Open Beta Release

In der Softwareentwicklung bezeichnet die Beta-Version eines Programms eine noch nicht fertiggestellte und häufig noch fehlerbehaftete Version, die für die Öffentlichkeit bereits verfügbar ist. Es handelt sich um eine Vorstufe zum Release, als finaler, (in einer idealen Welt) fehlerfreien Version. Vor diesem Hintergrund wird man die CUII gegenwärtig als Hybrid begreifen müssen, denn einige Aspekte sind nachbesserungsbedürftig. Isoliert betrachtet wäre der Umstand, dass Nutzer:innen im Verfahren nur rudimentär und nachgeschaltet einbezogen werden, vielleicht noch nicht ausschlaggebend. Problematisch erscheint das aber in Kumulation der weiteren Defizite, nicht zuletzt auch im Lichte des Europarechts im weiteren Sinne:

Ansatz des EGMR:

Dass Maßnahmen gegen illegale Plattformen auf nationaler Ebene auch vor dem Hintergrund der Informations- und Kommunikationsfreiheiten des Artikel 10 EMRK grundsätzlich gerechtfertigt sein können, zeigt der Fall The Pirate Bay: ECHR, Appl. nr. 40397/12, 19.2.2013, Case of Fredrik Neij and Peter Sunde Kolmisoppi (The Pirate Bay) v. Sweden. Auch Sperrmaßnahmen waren wiederholt schon Gegenstand der Rechtsprechung des EGMR, wobei die Sperren technisch unterschiedlich ausgestaltet waren (z.T. auf Dienstebene oder IP Sperren) und in der Regel durch dem Staat unmittelbar zurechenbare Stellen angeordnet waren. Die Maßnahmen hatten damit ohne Frage Eingriffscharakter (EGMR, Applications nos. 48226/10 and 14027/11, 1.12.2015, CASE OF CENGİZ AND OTHERS v. TURKEY; EGMR, Appl. no. 10795/14, 23.6.2020, Kharitonov gegen Russland).

Handeln aber wie unter Ägide der CUII private Akteure auf Basis von Selbstregulierung stellt sich zunächst die Frage nach dem Grad der Drittwirkung der Konventionsgrundrechte. Das Ministerkommittee des Europarats hat diesbezüglich wiederholt darauf hingewiesen, dass (privatwirtschaftlich organisierte) Internetplattformen und namentlich auch Internet Access Provider den Kommunikationsgrundrechten ihrer Nutzer:innen besonders Rechnung zu tragen haben (Declaration […] with regard to privately operated Internet platforms and Internet access providers, adopted on 7 December 2011; Recommendation CM/Rec(2015); Recommendation CM/Rec(2018))

Dieser Ansatz liegt auch auf Linie des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss vom 11. April 2018 (1 BvR 3080/09, Stadionverbot – dort Rn. 41). Bejaht man vor diesem Hintergrund eine „situativ staatsgleiche Grundrechtsbindung privater Akteure“, (Michl, JZ 2018, S. 910-918) so hat dies weitreichende Folgen auch für unbeabsichtigte Kollateralschäden im Informationsstrukturmanagement.

Präzisierungsgebot

Die wesentlichen Aspekte um Overblocking bei DNS-Sperren müssen bestimmbar sein. Das betrifft beispielsweise die Frage, ob qualitative oder quantitative Aspekte bei einer Analyse maßgeblich sind, wie sie näher ausgestaltet sind und wie bei der Ermittlung methodisch vorzugehen ist. In Sachen Cengiz (Applications nos. 48226/10 and 14027/11, 1.12.2015) mahnt der EGMR hinsichtlich beschränkender Infrastrukturregeln „precise and specific rules regarding the application of preventive restrictions on the freedom to receive and impart information and ideas“ an. Von präzisen und spezifischen Vorgaben zur Overblocking-Rate bei DNS-Sperren kann bis dato keine Rede sein. Bereits das Merkmal „strukturell urheberrechtsverletzende Webseite“ (SUW) im Verhaltenskodex der CUII ist bemerkenswert unscharf. Da die erste Voraussetzung der Definition in Ziffer 2 des CUII-Verfahrenskodex (Ausrichtung auf Deutschland) den territorialen Anwendungsbereich regelt, erfolgt die Konkretisierung des Adjektivs „strukturell“ über die zweite Voraussetzung. Strukturell bedeutet dann schlicht „klar“, also letztlich offensichtlich. An dieser Stelle folgt die Konzeption demnach einem fragwürdigen Trend, der mit „offensichtlichen“ Rechtsverletzungen auch im NetzDG seinen Niederschlag gefunden hat. Begrifflich vermengt wird im Verhaltenskodex dann auch noch die Tatbestands- (handelt es sich um eine SUW?) und die davon zu unterscheidende Rechtsfolgenseite (ist bei einer DNS-Sperre Overblocking in gewissem Rahmen gleichwohl akzeptabel?).

Das ist in jedem Fall zu präzisieren, wobei zumindest die grundlegenden Vektoren angesichts ihrer erheblichen Bedeutung für den Kommunikationsraum Internet demokratisch unmittelbar legitimiert und außerhalb der Selbstregulierung, also legislativ bestimmt werden sollten.

Das angesprochene Konkretisierungsdefizit um Overblocking bei DNS-Sperren ist übrigens weder Besonderheit der CUII, noch der nationalen Rechtsprechung. So hat der High Court of Justice (England & Wales), Chancery Division gerade (25.2.2021) in einem Verfahren von Rechteinhabern gegen Infrastrukturbetreiber DNS-Sperren gebilligt. Auch empirisch Nachvollziehbares enthält diese Entscheidung (Ziffern 17, 18, 59, 60). Das betrifft leider nicht die Frage des Overblockings (zur Verhältnismäßigkeit insgesamt Ziffer 70ff, zum Overblocking Ziffern 76, 77 der Entscheidung).

Fazit

Die derzeitige Ausgestaltung des CUII-Verfahrens ist im Lichte des ultima-ratio Charakters von DNS-Sperren und der besonderen Bedeutung der Internetkommunikation für die digitale Informationsgesellschaft unzureichend. Bedenklich sind die fehlende Einbeziehung der Nutzer:innen in das Verfahren sowie signifikante Defizite bei der Gremientransparenz und der Methodik zur Bestimmung dessen, wann von Overblocking „in einem nicht ins Gewicht fallenden Ausmaß“ gesprochen werden kann.

 

 

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