EuGH, C-376/20 P: Schlussanträge des Generalanwalts vom 20.10.2022

Kontrolle von Zusammenschlüssen: Generalanwältin präzisiert Anforderungen

Generalanwältin Kokott präzisiert die Anforderungen an den Nachweis nicht koordinierter Auswirkungen, die auf einem oligopolistischen Markt zu einer „erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ führen, ohne dass das fusionierte Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung innehat. Der Umfang der gerichtlichen Kontrolle sowie die Anforderungen an die Beweisführung und das Beweismaß müssten dieselben sein, unabhängig von der Art des Zusammenschlusses, der zu einer solchen Behinderung führen könne.

Der Sachverhalt:
Am 11. Mai 2016 erließ die Europäische Kommission einen Beschluss, mit dem die Unvereinbarkeit der geplanten Übernahme von Telefónica UK (bekannt als „O2“) durch Hutchison 3G UK (bekannt als „Three“), beides britische Mobilfunkanbieter, mit der Fusionskontrollverordnung festgestellt wurde. Der betreffende Markt ist oligopolistisch, was nach Auffassung der Kommission zu einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs führt, und zwar aufgrund sog. „nicht koordinierter“ oder „einseitiger“ horizontaler Auswirkungen, d.h. ohne dass das fusionierte Unternehmen eine marktbeherrschende Stellung innehat.

Auf Klage eines der Unternehmen erklärte das Gericht der Europäischen Union diesen Beschluss mit Urteil vom 28. Mai 2020 für nichtig. Nach Auffassung des Gerichts hatte die Kommission im Wesentlichen die Beweiserfordernisse verkannt, die im Bereich der Kontrolle von Zusammenschlüssen gelten, die zu nicht koordinierten Auswirkungen auf einem oligopolistischen Markt führen.

Im Rahmen ihres beim Gerichtshof eingelegten Rechtsmittels rügt die Kommission im Wesentlichen sowohl diese Erfordernisse als auch den Umfang der Kontrolle, die das Gericht in dieser Hinsicht ausgeübt habe.

In ihren Schlussanträgen von heute schlägt Generalanwältin Juliane Kokott vor, das Urteil des Gerichts aufzuheben und die Sache zur Entscheidung des Rechtsstreits an dieses zurückzuverweisen.

Die Gründe:
Sie weist zunächst darauf hin, dass es sich um die erste Rechtssache handele, die dem Gerichtshof die Möglichkeit gebe, sich zum Begriff „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“, soweit diese auf nicht koordinierten Auswirkungen beruhe, zu äußern und sowohl die Beweisanforderungen, die die Kommission bei der Anwendung dieses Begriffs zu beachten habe, als auch den Umfang der von den Unionsgerichten vorzunehmenden Rechtmäßigkeitskontrolle zu präzisieren.

Erstens müsse der Umfang der gerichtlichen Kontrolle in Bezug auf die Anwendung des Begriffs „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ derselbe sein, unabhängig von der Art des betreffenden Zusammenschlusses, der zu einer solchen Behinderung führen könne. In dieser Hinsicht verfüge die Kommission in Wirtschaftsfragen bei der Anwendung der Grundregeln der Fusionskontrollverordnung über einen Beurteilungsspielraum. Daher beschränke sich die von den Unionsgerichten vorzunehmende Kontrolle eines Beschlusses der Kommission auf die Nachprüfung der materiellen Richtigkeit des Sachverhalts und auf offensichtliche Beurteilungsfehler.

Zweitens hat die Generalanwältin die Kriterien untersucht, nach denen sich die Beweislast und die Beweisführung sowie das Beweismaß richten, das die Unionsgerichte von der Kommission verlangen müssen, wenn diese einen Zusammenschluss wegen einer erheblichen Behinderung wirksamen Wettbewerbs durch nicht koordinierte Auswirkungen in einem oligopolistischen Markt untersagt.

Zum einen stelle die Fusionskontrollverordnung keine unterschiedlichen Beweisanforderungen bei Entscheidungen, die einen Zusammenschluss genehmigten, und solchen, die einen Zusammenschluss untersagten, denn diese Anforderungen seien vollkommen symmetrisch.

Zum anderen sei das relevante Kriterium für das Beweismaß, das die Kommission bei ihren (vorausschauenden) wirtschaftlichen Analysen zu erfüllen habe, das der „Wahrscheinlichkeit“ oder der „Plausibilität“. Zu prüfen sei, inwieweit der betreffende Zusammenschluss unter Berücksichtigung der verschiedenen denkbaren Kausalketten zu einer erheblichen Behinderung des wirksamen Wettbewerbs führen könnte. In diesem Fall sei der Umfang der gerichtlichen Kontrolle im Wesentlichen auf die Überprüfung auf offensichtliche Beurteilungsfehler beschränkt. Diese Schlussfolgerung sei umso mehr geboten, als die Prognose der Zukunft weder einem „objektiven“ Beweis zugänglich noch frei von Unsicherheiten oder Zweifeln sei. So könne sich auf allgemeiner oder abstrakter Ebene jede vorausschauende Analyse in Bezug auf die künftigen Entwicklungen eines relevanten Marktes und auf das künftige Verhalten der dort tätigen Marktteilnehmer nur auf die Bestimmung einer mehr oder weniger starken Wahrscheinlichkeit stützen.

Schließlich gebe es angesichts der Einheitlichkeit des Begriffs „erhebliche Behinderung wirksamen Wettbewerbs“ unabhängig von der Art des angestrebten Zusammenschlusses und der Symmetrie der Beweisanforderungen keine Rechtfertigung dafür, bei Zusammenschlüssen, die zu nicht koordinierten Auswirkungen auf oligopolistischen Märkten führten, ein höheres Beweismaß zu verlangen als bei Zusammenschlüssen, die zu kollektiven beherrschenden Stellungen (mehrere rechtlich voneinander unabhängige Unternehmen, die wirtschaftlich betrachtet auf dem relevanten Markt als Einheit auftreten) oder solchen des Typs „Konglomerat“ (Gruppe von Unternehmen, die unterschiedlichen Branchen angehören) führten.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 24.10.2022 12:06
Quelle: EuGH PM Nr. 170 vom 20.10.2022

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