Aktuell in der CR

Die komplexe Mechanik der neuen Anforderungen im Mängelregime (Schneider, CR 2022, 1)

Die neuen Regelungen zu digitalen Produkten und zu Warenkauf mit digitalen Elementen wurden 2021 in zahlreichen Beiträgen behandelt. Zu den neuen, z.T. sehr technisch geprägten Anforderungen, die das Mangelregime stark beeinflussen, gibt es eher weniger Beiträge. Erst allmählich zeichnet sich ab, dass evtl. neue Vertragstypen etabliert wurden bzw. sich praktisch entwickeln werden. Der Beitrag zeigt - weitgehend auf Software bezogen - auf, dass das neue Mangelregime dazu zwingt, im jeweils konkreten Fall eine bislang unübliche Vorgehensweise anzuwenden.

Warum die Grenzen der Gleichrangigkeit gesetzlicher Leistungsanforderungen für das geschuldete Leistungsprofil so etwas wie „praktische Konkordanz“ fordern:
 

INHALTSVERZEICHNIS:

I. Notwendigkeit und Schwierigkeiten praktischer Konkordanz

II. Die neuen Vertragstypen mit typischen Fallgruppen

   1. Software als digitales Produkt

   2. Daten und Bereitstellung sowie Zugang als neue zentrale Anknüpfungspunkte

   3. Hybrid-Charakter

III. Auflistung und Zusammenspiel der Anforderungen

   1. Überblick

   2. Die gemeinsamen Prinzipien, Arten von Anforderungen

   3. Synopse der Anforderungen § 327e und § 475b i.V.m. § 434

IV. Mangelregime: Unterschiede & Gemeinsamkeiten bei der Gewährleistung – „Statik“

   1. Auswertung Synopse

   2. Vergleich zur Aktualisierung

   3. Vergleich zu weiteren Anforderungen

V. Praktische Konkordanz und Dynamik durch Änderungen

   1. Auslegungsleitlinien

   2. „Mechanik“, Überlagerungen, Zusammenhänge

   3. Der stärkste Änderungsimpuls: Aktualisierung i.V.m. Änderungspflicht

   4. Die verschiedenen Änderungsimpulse im Zusammenspiel

 


Leseprobe:

"Diese Vorgehensweise baut auf den Maßgaben der DID-​RL auf, was durch die Umsetzung im BGB-​AT als Block zu einem neuen Vertragstyp und Fallgruppen neuer Art führt (II.). In der praktischen Anwendung zeigt sich, dass das Zusammenspiel von Kumulation, Gleichrang und schwieriger Abdingbarkeit zu einer wohl bislang unterschätzten Notwendigkeit führt, eine Skalierung mit graduellen Differenzierungen hinsichtlich der Anforderungen im Verhältnis zueinander vorzunehmen und die Anforderungen im Zusammenwirken als Ganzes zu betrachten, was erhebliche Auslegungsschwierigkeiten ergibt (III.). Trotz Gemeinsamkeiten durch gleiche „Bausteine“ und Ähnlichkeiten der Regelungen bilden § 327e BGB und § 434 BGB (für Warenkauf i.V.m. § 475b und § 475c BGB) zu differenzierende Regelsysteme (IV.). Für diese ist jeweils eine Auslegungsleistung zu erbringen, die die Widersprüche und gegensätzlichen Maßgaben in einer Art „praktischen Konkordanz“ zu einer handhabbaren Mechanik führt, die deren Dynamik berücksichtigt (V.). Der Beitrag versucht in einer aufeinander aufbauenden Trilogie, das Instrument einer „praktischen Konkordanz“ wegen seiner Anschaulichkeit vorsichtig für das IT-​Vertragsrecht fruchtbar zu machen. Nach Offenlegung des Problems hier wird die technische Perspektive zu diesem Versuch in einem weiteren Beitrag (Teil 2) genauer untersucht und präsentiert. Schließlich werden in einem letzten Beitrag (Teil 3) in Umsetzung der Ergebnisse aus Teil 1 und 2 Vorschläge zur Vertragsgestaltung entwickelt (u.a. negative Beschaffenheitsvereinbarungen und Umgang mit konkurrierenden Anforderungen).

I. Notwendigkeit und Schwierigkeiten praktischer Konkordanz

 [1]

Ohne stufenweise Harmonisierung der neuen Anforderungen sind diese im konkreten Fall nicht handhabbar. Es braucht Maßgaben für eine Mechanik, die Anforderungen in ein praktikables Verhältnis für ein jeweils stimmiges Profil zueinander zu setzen und stärker als vorgesehen zu relativieren. Die Maßgaben stammen weitestgehend aus der DID-​RL (ErwGr und Wortlaut) und werden im Folgenden zu einem Gedankengebäude zusammengefügt, aus dem sich möglichst aufeinander aufbauend ergibt, dass die Anforderungen an die Vertragsgemäßheit einer Leistung in der Praxis nur mit Hilfe einer nicht in den Richtlinien vorgesehenen Abstufung bei der Auslegung der Begriffe umsetzbar sind, was nach Darstellung der neuen Regelungen in II. und III. näher in IV. zur Notwendigkeit einer „praktischen Konkordanz“1 in V. führt:

 

•  1. Art. 4 DID-​RL und WK-​RL2 sehen jeweils Vollharmonisierung vor. Weder strengere noch weniger strenge Regeln wären erlaubt, sofern die Richtlinie nicht anderes bestimmt.

•  2. Die Umsetzung der DID-​RL erfolgte als Block-Implementierung mit weitgehender Übernahme der Formulierungen der Richtlinie und blieb entsprechend abstrakt.

•  3. Ein wichtiges, allerdings so vom Unionsgesetzgeber nicht bezeichnetes Prinzip ist die Gleichrangigkeit der Anforderungen in Art. 7, 8 und 9 DID-​RL.3 Die Begründung verweist auf den Wortlaut in Art. 8 Abs. 1 DID-​RL, der eingangs besagt: „Zusätzlich zur Einhaltung der subjektiven Anforderungen an die Vertragsmäßigkeit müssen die digitalen Inhalte oder Digitaldienstleistungen ...“ [Hervorhebung hinzugefügt].

•  4. Vollharmonisierung und Ranggleichheit z.T. heterogener Anforderungen sind generalisiert für alle Produkte und Kundenumgebungen bzw. Anwendungsprozesse umzusetzen, gelten für das gesamte Spektrum verschiedener, von den Regelungen erfasster Produkte (s. ErwGr 10, 19 DID-​RL) und ergeben auf diesem Wege eine explosive Mischung aufgrund der natürlichen Kollision von z.T. gegenläufigen Anforderungen.

•  5. Diese Problemmixtur wird potenziert durch die Forderung der Kumulation der (subjektiv und „zugleich“ objektiv), nicht abschließend aufgeführten Anforderungen. Ein Korrektiv zur Ausbalancierung - etwa i.S.v. „mittlerer Art und Güte“ oder „mittleren Ausführungsstandards“ - fehlt. Den in ErwGr 46 DID-​RL (s.a. Ziff. 8. und 9. unten) angelegten Ansatz, auf Erwartungen aufzubauen, die  vernünftigerweise  objektivierbar bestehen, greift die deutsche Umsetzung nicht auf. Im Vergleich mit § 243 BGB fehlt bei § 327e BGB eine indirekte Öffnung für Skalierungen durch „mittlere“ i.V.m. dem Preissegment4.

Tatsächlich ist eine große Variationsbreite typisch für einige Merkmale (etwa als Sicherheits-​Level in Abhängigkeit von Variablen5). Die Überlappung objektiver Anforderungen mit subjektiven (s. III.3. Rz. 23-​29 unten) und das Erfordernis individueller Vereinbarung engen den Spielraum für Negativ-​Vereinbarungen stark ein.

•  6. Zwecks Praktikabilität sind sich gegenseitig negativ beeinflussende Anforderungen in Balance zu bringen. Dazu würde deren Skalierung jeweils für jede Art Produkt vorzusehen sein. Den Ansatz bieten Regelungen wie „unter Berücksichtigung der Art des digitalen Produkts“ in § 327e Abs. 3. ErwGr 46 DID-​RL nennt zudem den Zweck sowie die Umstände des Einzelfalls und der Gebräuche und Gepflogenheiten der Vertragsparteien. Es gibt Überlappungen subjektiver und objektiver Anforderungen, es fehlt Skalierbarkeit (nur in Andeutungen) und nur zwei Eigenschaften werden besonders behandelt (§ 327r). Das lässt den Schluss zu, dass die anderen Eigenschaften eines digitalen Produkts skalierbar sind. Umso unsicherer bzw. Einzelfall-​orientierter wird aber das Gefüge des individuellen Anforderungsprofils: Zugriffsmöglichkeit auf das digitale Produkt und dessen Nutzbarkeit sind nicht bei „Anforderungen“ genannt, haben aber besonderen Rang (s. V.4. Rz. 56 f. unten).

•  7. Nach ErwGr 45 DID-​RL soll ein Verbot bestehen, im Vertrag sehr oder zu niedrige Standards festzulegen. Deshalb sind über die subjektiven Anforderungen hinaus die in der DID-​RL festgelegten objektiven Anforderungen an die Vertragsmäßigkeit zu erfüllen. Allerdings enthalten diese auch subjektive Momente.

•  8. Wichtiger Maßstab der DID-​RL u.a. für das, was der Verbraucher erwarten kann, ist die Vernünftigkeit. ErwGr 46 DID-​RL sieht als Standard für „Vernünftigkeit“ bei allen Verweisen der DID-​RL das, was eine Person vernünftigerweise erwarten kann. Die deutsche Umsetzung gibt das so nicht wieder, muss unionsrechtskonform aber so interpretiert werden.

•  9. Der von einem digitalen Produkt zu erreichende Level muss mangels ausreichender Öffnung für Skalierungen (s. Ziff. 5 oben) für jede einzelne Anforderung und für sein individuelles Anforderungsprofil insgesamt über dem „Durchschnitt“ liegen, der bei „mittlerer Art und Güte“, § 243 BGB, ausreichen würde.6 Ansätze zum Nachweis eines gebotenen Levels können technische Normen bieten (Art. 8 Abs. 1 lit. a) DID-​RL). Auch der RegE sah technische Normen als Quelle objektiver Anforderungen,7 das nun geltende Recht hat diesen Ansatz aber nicht umgesetzt, dennoch sind technische Normen im Rahmen einer unionsrechtskonformen Auslegung als objektive Anforderungen zu berücksichtigen.

•  10. Die Art. 7 und 8 DID-​RL stellen subjektive und objektive Anforderungen in großer Vielfalt und Vielzahl auf (s. III. unten). Diese Liste schließt auch Art. 9 DID-​RL (Integration) ein und bildet das statische Fundament für die Problematik, die sich i.V.m. der Dynamik der Produkte und deren Anwendung steigert. D. h., dass die Vorschriften im Wechselspiel der diversen Anforderungen, das zu einem erheblichen Teil technisch bedingt ist, und im Betrieb eine schwer darstellbare (und vom Anbieter kaum realisierbare) Komplexität ergeben.

•  11. Verschiedene Anforderungen stehen technisch gesehen in einem Zusammenhang, der auch der Art sein kann, dass sie sich gegenseitig negativ beeinflussen oder nahezu ausschließen. Einer insoweit ggf. erforderlichen Absenkung steht entgegen, dass insgesamt ein hoher Level an die Ausführung der Anforderungen zu stellen und nach ErwGr 45 DID-​RL zumindest der Standard zu erfüllen ist (s.a. Ziff. 7 oben).

•  12. Die Aktualisierungspflicht bringt Änderungen mit sich, die vielleicht primär IT-​Sicherheit betreffen. Damit konfligiert Qualität; d.h., Widersprüche verschärfen sich. Der Zeitraum, für den die Aktualisierungspflicht besteht, geht ggf. über die Verjährungsfrist für Mängel hinaus (§ 327d Abs. 1 S. 2 Nr. 2 bei einmaliger Bereitstellung, s.a. ErwGr 47 DID-​RL).

•  13. Sicherheit und Aktualisierungspflicht sind z.B. für die Datenschutzeignung 8 eines digitalen Produkts sehr wesentlich. Verstöße gegen die DSGVO werden zunehmend auch als schadensersatz-​auslösend gesehen, so dass Relevanz für Datenschutz zu einem besonderen Gewicht der involvierten Anforderungen9 führt.

•  14. Aufgrund der Gleichrangigkeit der Anforderungen stellen „digitale Produkte“ allein schon durch die Kombination von Inhalten und Diensten mit alleinigem Abstellen auf digitale Form bzw. Daten einen enormen Sprengsatz dar. Dieser entsteht dadurch, dass verschiedenste Produkte ohne Rücksicht auf Preislage und Leistungsfähigkeit sämtliche Anforderungen harmonisiert und mit hohem Standard zu erfüllen haben. Nur § 327h und § 327s erlauben negative Abweichungen für Merkmale und für sonstige Vereinbarungen unter sehr engen Voraussetzungen.

 [2]

Die Aufgabe, zu einer Abstufung zu gelangen, entspricht also einer Quadratur des Kreises, weil gegen irgendeines der Gebote (Gleichrangigkeit, Verbraucherschutz usw.) verstoßen werden muss, um pragmatische Lösungen bei den technischen Ausprägungen zu erreichen. ErwGr 28 DID-​RL fordert wirksamen Verbraucherschutz (hier im Kontext der interpersonellen Kommunikationsdienste erwähnt). Gemäß ErwGr 8 und 11 DID-​RL sollen die Verbraucher aufgrund einer vollständigen Harmonisierung der wesentlichsten Vorschriften von einem hohen Verbraucherschutzniveau auf Basis von den harmonisierten Rechten, die ein hohes Schutzniveau gewährleisten, profitieren. Art. 2 und 3 DID-​RL sehen ein hohes Verbraucherschutzniveau in Balance mit Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen bei gleichzeitiger Wahrung des Subsidiaritätsprinzips als grundlegende Voraussetzung. Somit kann „wirksam“ als ein Hebel bzw. Argument für Skalierung insofern eingesetzt werden, wenn sich ggf. gerade durch ein abstufendes Gefüge der verschiedenen Anforderungen im Zusammenspiel ein optimales Ergebnis im Sinne des angestrebten hohen Schutzes ergibt.

II. Die neuen Vertragstypen mit typischen Fallgruppen

1. Software als digitales Produkt

 [3]

Nach der Gesetzesbegründung betrifft die Mehrheit der veröffentlichten Entscheidungen aus dem Bereich der von der DID-​RL betroffenen Verbraucherrechtsmaterien den Vertrieb von Software. „Eine vertragstypologische Einordnung der von der Richtlinie erfassten Verträge ist für deren Umsetzung weder nötig noch sachgerecht.“ Es wird auf die zu diesen Fragen ergangene Rechtsprechung verwiesen.10 Deshalb konnte die Umsetzung der DID-​RL im dritten Abschnitt des BGB zum Schuldrecht erfolgen.

 [4]

Das Eigenartige ist, dass zum einen Software in der DID-​RL nur …"

Hier direkt weiterlesen im juris PartnerModul IT-Recht



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 14.01.2022 11:34

zurück zur vorherigen Seite