BGH v. 2.6.2022 - I ZR 93/21

Unterlassungsantrag hinsichtlich Online-Werbung für Kindermilch mit nährwert- und gesundheitsbezogenen Angaben (7 x mehr)

Ein Unterlassungsantrag, in dem mehrere Verletzungsformen durch die Formulierung "und/oder" miteinander verknüpft sind, ist nur dann in vollem Umfang begründet, wenn hinsichtlich aller damit beanstandeter Handlungsformen sowohl in ihrer Kombination als auch für sich genommen ein Unterlassungsanspruch besteht. Sieht ein Gericht nur eine von mehreren miteinander verbundenen Verletzungsformen als irreführend an, rechtfertigt dies nicht eine Abweisung des gesamten Unterlassungsantrags, sondern nur dessen teilweise Abweisung.

Der Sachverhalt:
Der Kläger ist der Dachverband aller Verbraucherzentralen. Die Beklagte ist ein Lebensmittelunternehmen. Sie vertreibt u.a. die Produkte "H. Kindermilch COMBIOTIK ab 1+ Jahr" und "H. Kindermilch COMBIOTIK ab 2+ Jahr". Diese Produkte bewarb sie mit einem auf ihrer Webseite abrufbaren Werbespot. Darin hieß es: "7 x mehr brauchst du als ich, wirst groß, gesund - ganz sicherlich" und "7 x mehr Vitamin D, starke Knochen bis zum Zeh“. Beim Anklicken des dort jeweils blau hervorgehobenen Kästchens öffnete sich eine Seite, auf der sich die Erläuterung befand: "Kleinkinder benötigen bis zu 3 x mehr Calcium und sogar 7 x mehr Vitamin D als Erwachsene pro kg Körpergewicht".

Ebenfalls im Zusammenhang mit diesen Produkten befand sich auf der Webseite der Beklagten unter der Überschrift "Ernährung" die Angabe "Darum benötigt Ihr Kind 7 x mehr Vitamin D als ein Erwachsener - Erfahren Sie mehr über Vitamin D und den Einfluss auf das Immunsystem und den Knochenaufbau. Schließlich war jeweils auf einer Schmalseite der Produktverpackungen u.a. die Angabe abgedruckt "In der Zusammensetzung von H. Kindermilch COMBIOTIK® wird berücksichtigt, dass ein Kleinkind durchschnittlich 3 x mehr Calcium1 und 7 x mehr Vitamin D1 als ein Erwachsener benötigt". Weiter unten befand sich die Angabe "1 Mehrbedarf an Nährstoffen Kleinkinder vs. Erwachsene pro kg KG (EFSA 2013, Männer 80 kg, Kleinkinder 12 kg)".

Der Kläger sah darin unzulässige Werbemaßnahmen. Das LG gab der Unterlassungsklage statt. Das OLG wies sie im Berufungsverfahren ab. Auf die Revision des Klägers hob der BGH das Berufungsurteil auf und wies die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurück.

Gründe:
Mit der vom OLG gegebenen Begründung kann eine Irreführung i.S.v. Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 nicht verneint werden.

Danach dürfen nährwert- und gesundheitsbezogene Angaben nicht falsch, mehrdeutig oder irreführend sein. Art. 3 Unterabs. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 1924/2006 stellt eine Marktverhaltensregelung i.S.v. § 3a UWG dar, deren Missachtung geeignet ist, die Interessen von Verbrauchern, sonstigen Marktteilnehmern oder Mitbewerbern spürbar zu beeinträchtigen. Es handelt sich um eine spezielle Vorschrift für die Verwendung nährwertbezogener und gesundheitsbezogener Angaben bei Lebensmitteln, durch die die allgemeinen Regelungen über den Täuschungsschutz in der Richtlinie 2000/13/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür.

Die Vorinstanz hat das für die Feststellung einer Irreführung maßgebliche Verkehrsverständnis von der angegriffenen Werbung fehlerhaft ermittelt, indem es sich ausschließlich mit dem Wortlaut der mit dem Klageantrag zu I 1 beanstandeten Aussagen befasst und die übrigen Merkmale der Werbung nicht berücksichtigt hat. Für die Feststellung, welches Verständnis die im Klageantrag in der geschilderten Weise in Bezug genommene Werbeanzeige und etwaige dort getroffene Werbeaussagen bei dem angesprochenen Verkehr erwecken, ist nach ständiger BGH-Rechtsprechung nämlich der Gesamteindruck der Werbung zu würdigen und nicht lediglich auf einzelne Elemente derselben abzustellen.

Das Berufungsgericht hat sich etwa nicht damit befasst, dass die beiden Werbeaussagen jeweils unmittelbar über einer Abbildung der beiden damit beworbenen Kindermilch-Erzeugnisse platziert sind. Es hat sich daher auch nicht damit auseinandergesetzt, ob sich möglicherweise bereits hieraus der vom Berufungsgericht vermisste Bezug zu den mit "du" und "ich" angesprochenen Personen sowie zu einem angeblich siebenfachen Bedarf an Vitamin D ergibt. Ebenfalls nicht berücksichtigt hat es, dass sich unter den streitgegenständlichen Aussagen und den Abbildungen des beworbenen Kindermilch-Produkts ausweislich der Anlage K1 die Schriftzeile "Expertengespräch: Warum benötigt ein Kind 7 x mehr Vitamin D als ein Erwachsener?" befindet.

Da das OLG sich mit diesen Elementen der Werbung nicht befasst hat, konnte es sich auch nicht die Frage stellen, ob der Verkehr die in der Anlage K1 abgebildete Werbung bei einer Gesamtbetrachtung nur dahingehend verstehen kann, dass die Beklagte suggeriert, Kinder hätten gegenüber Erwachsenen in der Gesamtmenge einen siebenfachen Bedarf an Vitamin D. Zu Unrecht hat das Berufungsgericht gemeint, aus dem Vorbringen des Klägers ergebe sich nicht, dass dem beworbenen Produkt besondere Nährwerteigenschaften zugeschrieben würden. Nach seinen Feststellungen hatte der Kläger vorgebracht, die Werbung der Beklagten sei irreführend, weil der angesprochene Verbraucher die Angaben dahingehend verstehe, dass die vom Kind benötigte Menge an Vitamin D absolut sieben Mal höher sei als bei einem Erwachsenen, und dass deshalb das so konzipierte Produkt der Beklagten besonders werthaltig sei.

Die Ansicht des Berufungsgerichts, ein Verstoß gegen die Irreführungsverbote aus Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 und aus § 5 Abs. 1 UWG könne auf der Grundlage des Klagevorbringens nicht angenommen werden, war ebenfalls rechtsfehlerhaft. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts kann eine Verletzung von Art. 7 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1169/2011, wonach Informationen über Lebensmittel nicht irreführend sein dürfen, nicht bereits deshalb verneint werden, weil der Kläger nicht dargetan habe, dass die beanstandeten Äußerungen solche über Lebensmittel seien.

Für das weitere Verfahren weist der Senat zudem darauf hin, dass soweit das OLG gemeint hat, aus der Verknüpfung der mit dem Unterlassungsantrag zu I 1 beanstandeten Äußerungen mit "und/oder" folge, dass das vom LG ausgesprochene Verbot nur dann Bestand haben könne, wenn jede der beiden dort beanstandeten Äußerungen für sich genommen irreführend sei, ist klarzustellen, dass für den Fall, dass nur eine der beiden Aussagen als irreführend anzusehen wäre, auch eine Teilabweisung in Betracht zu ziehen wäre. Greift eine Klagepartei verschiedene Angaben der beklagten Partei an und nimmt sie verbunden mit "und/oder" in ihren Unterlassungsantrag auf, macht sie durch diese Art der Verbindung in der Regel deutlich, dass sie die einzelnen Angaben nicht nur in ihrer Kombination zur Überprüfung stellt, sondern auch für sich genommen.

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Kurzbeitrag:
OLG Hamburg hält "Günstig wie im Supermarkt" nicht für irreführend
René Rosenau, IPRB 2021, 255

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 29.08.2022 11:02
Quelle: BGH online

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