EuGH v. 1.8.2022 - C-184/20

Veröffentlichung personenbezogener Daten: EuGH zur Auslegung des Art. 9 Abs. 1 DSGVO bei Erkennbarkeit der sexuellen Orientierung einer natürlichen Person

Art. 9 Abs. 1 DSGVO ist dahin auszulegen, dass die Veröffentlichung personenbezogener Daten, die geeignet sind, die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person indirekt zu offenbaren, auf der Website der Behörde, die für die Entgegennahme und die inhaltliche Kontrolle von Erklärungen über private Interessen zuständig ist, eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

Der Sachverhalt:
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. e und Art. 9 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2016/679 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. April 2016 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten, zum freien Datenverkehr und zur Aufhebung der Richtlinie 95/46/EG (Datenschutz-Grundverordnung), im Folgenden: DSGVO).

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen OT und der Vyriausioji tarnybinės etikos komisija (Oberste Kommission für Dienstethik, Litauen) (im Folgenden: Oberste Ethikkommission) wegen einer Entscheidung der Obersten Ethikkommission, mit der festgestellt wurde, dass OT seine Pflicht zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen verletzt habe.

Die Oberste Ethikkommission ist eine Behörde, die u.a. dafür zuständig ist, für die Anwendung des Gesetzes über den Interessenausgleich zu sorgen und insbesondere die Erklärungen über private Interessen entgegenzunehmen und zu kontrollieren.

OT ist der Leiter von QP, einer im Bereich des Umweltschutzes tätigen Einrichtung litauischen Rechts, die öffentliche Mittel erhält.

Mit Entscheidung vom 7.2.2018 stellte die Oberste Ethikkommission fest, dass OT gegen Art. 3 Abs. 2 und Art. 4 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich verstoßen habe, da er keine Erklärung über private Interessen vorgelegt habe. Am 6.3.2018 erhob OT beim vorlegenden Gericht eine Anfechtungsklage gegen diese Entscheidung.

Zur Begründung seiner Klage macht OT zum einen geltend, er gehöre nicht zu den von Art. 2 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich erfassten Personen, die der Pflicht zur Erklärung privater Interessen unterlägen. Als Leiter von QP habe er nämlich keine Befugnisse zur Wahrnehmung von Aufgaben der öffentlichen Verwaltung und erbringe keinerlei öffentliche Dienstleistung zugunsten der Bevölkerung. Zudem übe QP als Nichtregierungsorganisation ihre Tätigkeit unabhängig von der öffentlichen Gewalt aus.

Zum anderen macht OT für den Fall einer Pflicht zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen geltend, dass die Veröffentlichung dieser Erklärung jedenfalls sowohl sein eigenes Recht auf Achtung seines Privatlebens als auch das der anderen Personen, die er ggf. in seiner Erklärung angeben müsste, verletzen würde.

Die Oberste Ethikkommission macht geltend, da OT in einer Einrichtung, die mit Mitteln aus Strukturfonds der Union und aus dem Haushalt des litauischen Staates finanziert werde, über administrative Befugnisse verfüge, sei er, wenngleich er kein Beamter sei, zur Abgabe einer Erklärung über private Interessen verpflichtet, selbst wenn man unterstelle, dass er keine Aufgaben der öffentlichen Verwaltung wahrnehme. Die Veröffentlichung einer solchen Erklärung möge zwar einen Eingriff in das Privatleben des Betroffenen und seines Ehegatten darstellen, doch sei dieser Eingriff im Gesetz über den Interessenausgleich vorgesehen.

Das vorlegende Gericht führt aus, es sei zweifelhaft, ob die im Gesetz über den Interessenausgleich vorgesehene Regelung mit Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. c und e und Abs. 3 der DSGVO sowie mit Art. 9 Abs. 1 dieser Verordnung vereinbar sei. Die in einer Erklärung über private Interessen enthaltenen personenbezogenen Daten könnten Informationen über das Privatleben der erklärungspflichtigen Person, ihres Ehegatten, Lebensgefährten oder Partners oder ihrer Kinder offenlegen, so dass ihre Verbreitung geeignet sei, das Recht der betroffenen Personen auf Achtung ihres Privatlebens zu verletzen. Diese Daten könnten nämlich besonders sensible Informationen offenbaren, wie etwa die Tatsache, dass die betroffene Person in einer eheähnlichen Lebensgemeinschaft oder mit einer Person gleichen Geschlechts lebe, und die Verbreitung dieser Informationen könne zu erheblichen Unannehmlichkeiten im Privatleben dieser Personen führen. Die Daten über von der erklärungspflichtigen Person und ihrem Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner erhaltenen Geschenke und von ihnen abgeschlossenen Transaktionen offenbarten ebenfalls bestimmte Einzelheiten ihres Privatlebens. Die Daten über Angehörige oder Bekannte der erklärungspflichtigen Person, die einen Interessenkonflikt begründen könnten, offenbarten außerdem Informationen über die Familie dieser Person und ihre persönlichen Beziehungen.

Auch wenn das Gesetz über den Interessenausgleich darauf abziele, die Wahrung des Grundsatzes der Transparenz bei der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, insbesondere beim Erlass von Entscheidungen mit Bezug zur Verwirklichung des öffentlichen Interesses, zu gewährleisten, sei es zur Erreichung dieses Ziels nicht erforderlich, Umstände, die den Erlass solcher Entscheidungen beeinflussen könnten, im Internet zu veröffentlichen. Die Übermittlung der personenbezogenen Daten an die in Art. 5 dieses Gesetzes genannten Einrichtungen sowie die Kontrollfunktion der in Art. 22 dieses Gesetzes bezeichneten Stellen reichten aus, um die Erreichung dieses Ziels zu gewährleisten.

Unter diesen Umständen hat der Vilniaus apygardos administracinis teismas (Regionalverwaltungsgericht Vilnius, Litauen) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof u.a. folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Ist das in Art. 9 Abs. 1 der DSGVO normierte Verbot der Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten unter Berücksichtigung der in Art. 9 Abs. 2 der DSGVO festgelegten Bedingungen, einschließlich der in Buchst. g dieser Bestimmung genannten Bedingung, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten auf der Grundlage des Unionsrechts oder des Rechts eines Mitgliedstaats, das in angemessenem Verhältnis zu dem verfolgten Ziel steht, den Wesensgehalt des Rechts auf Datenschutz wahrt und angemessene und spezifische Maßnahmen zur Wahrung der Grundrechte und Interessen der betroffenen Person vorsieht, aus Gründen eines erheblichen öffentlichen Interesses erforderlich sein muss, auch im Hinblick auf die Art. 7 und 8 der Charta dahin auszulegen, dass das nationale Recht nicht die Offenlegung von Daten in Erklärungen über private Interessen verlangen darf, durch die personenbezogene Daten offenbart werden können, einschließlich solcher Daten, die Rückschlüsse auf politische Ansichten, Gewerkschaftszugehörigkeit, sexuelle Orientierung oder andere persönliche Informationen zulassen, und auch nicht ihre Veröffentlichung auf der Website des Verantwortlichen, der Obersten Ethikkommission, wodurch allen Personen, die Zugang zum Internet haben, Zugang zu diesen Daten gewährt wird?

Laut EuGH ist auf Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 1 der DSGVO dahin auszulegen ist, dass die Veröffentlichung personenbezogener Daten, die geeignet sind, die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person indirekt zu offenbaren, auf der Website der Behörde, die für die Entgegennahme und die inhaltliche Kontrolle von Erklärungen über private Interessen zuständig ist, eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

Die Gründe:
Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 1 der DSGVO dahin auszulegen ist, dass die Veröffentlichung personenbezogener Daten, die geeignet sind, die politischen Meinungen, die Gewerkschaftszugehörigkeit oder die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person indirekt zu offenbaren, auf der Website der Behörde, die für die Entgegennahme und die inhaltliche Kontrolle von Erklärungen über private Interessen zuständig ist, eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmung darstellt.

Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO ist u.a. die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit hervorgehen, sowie die Verarbeitung von Daten zum Sexualleben oder zur sexuellen Orientierung einer natürlichen Person untersagt. Gemäß der Überschrift dieser Artikel handelt es sich um besondere Kategorien personenbezogener Daten, wobei diese Daten im 34. Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 und im zehnten Erwägungsgrund der DSGVO auch als „sensible Daten“ bezeichnet werden.

Im vorliegenden Fall sind die personenbezogenen Daten, deren Veröffentlichung nach Art. 10 Abs. 1 des Gesetzes über den Interessenausgleich zwingend ist, zwar ihrer Natur nach keine sensiblen Daten im Sinne der Richtlinie 95/46 und der DSGVO; jedoch hält es das vorlegende Gericht für möglich, aus den namensbezogenen Daten über den Ehegatten, Lebensgefährten oder Partner der erklärungspflichtigen Person bestimmte Informationen über das Sexualleben oder die sexuelle Orientierung dieser Person und ihres Ehegatten, Lebensgefährten oder Partners abzuleiten.

Unter diesen Umständen ist zu prüfen, ob Daten, aus denen mittels gedanklicher Kombination oder Ableitung auf die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person geschlossen werden kann, unter die besonderen Kategorien personenbezogener Daten im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO fallen.

Nach ständiger Rechtsprechung sind bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 21.12.2021, Bank Melli Iran, C124/20, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Nach Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 untersagen die Mitgliedstaaten die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder philosophische Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit „hervorgehen“, sowie die Verarbeitung von Daten „über“ Gesundheit oder Sexualleben. Art. 9 Abs. 1 der DSGVO bestimmt seinerseits, dass u. a. die Verarbeitung personenbezogener Daten, aus denen die rassische und ethnische Herkunft, politische Meinungen, religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen oder die Gewerkschaftszugehörigkeit „hervorgehen“, sowie die Verarbeitung von „Gesundheitsdaten“ oder Daten „zum“ Sexualleben oder zur sexuellen Orientierung einer natürlichen Person untersagt sind.

Wie der Generalanwalt in Nr. 85 seiner Schlussanträge der Sache nach ausgeführt hat, spricht die Verwendung des Verbs „hervorgehen“ in diesen Bestimmungen dafür, dass eine Verarbeitung erfasst ist, die sich nicht nur auf ihrem Wesen nach sensible Daten bezieht, sondern auch auf Daten, aus denen sich mittels eines Denkvorgangs der Ableitung oder des Abgleichs indirekt sensible Informationen ergeben, wohingegen aber die Präpositionen „zu“ und „über“ bzw. die Verwendung eines Kompositums zum Ausdruck zu bringen scheinen, dass eine direktere Verbindung zwischen der Verarbeitung und den betreffenden Daten, bei denen auf ihr originäres Wesen abzustellen ist, bestehen muss.

Letztere Auslegung, die zu einer Unterscheidung je nach Art der betroffenen sensiblen Daten führen würde, stünde allerdings nicht im Einklang mit einer kontextbezogenen Analyse der fraglichen Vorschriften; sie liefe insbesondere Art. 4 Nr. 15 der DSGVO zuwider, wonach „Gesundheitsdaten“ personenbezogene Daten sind, die sich auf die körperliche oder geistige Gesundheit einer natürlichen Person, einschließlich der Erbringung von Gesundheitsdienstleistungen, beziehen und aus denen Informationen über deren Gesundheitszustand „hervorgehen“, und stünde auch im Widerspruch zum 35. Erwägungsgrund der DSGVO, in dem es heißt, dass zu den personenbezogenen Gesundheitsdaten alle Daten zählen sollten, die sich auf den Gesundheitszustand einer betroffenen Person beziehen und aus denen Informationen über den früheren, gegenwärtigen und künftigen körperlichen oder geistigen Gesundheitszustand der betroffenen Person „hervorgehen“.

Für eine weite Auslegung der Begriffe „besondere Kategorien personenbezogener Daten“ und „sensible Daten“ spricht auch das in Rn. 61 des vorliegenden Urteils genannte Ziel der Richtlinie 95/46 und der DSGVO, das darin besteht, ein hohes Niveau des Schutzes der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen – insbesondere ihres Privatlebens – bei der Verarbeitung sie betreffender personenbezogener Daten zu gewährleisten (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6.11.2003, Lindqvist, C101/01, Rn. 50).

Die gegenteilige Auslegung liefe zudem dem Zweck von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO zuwider, der darin besteht, einen erhöhten Schutz vor Datenverarbeitungen zu gewährleisten, die, wie sich aus dem 33. Erwägungsgrund der Richtlinie 95/46 und dem 51. Erwägungsgrund der DSGVO ergibt, aufgrund der besonderen Sensibilität der betreffenden Daten einen besonders schweren Eingriff in die durch die Art. 7 und 8 der Charta garantierten Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf Schutz personenbezogener Daten darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24.9.2019, GC u.a. [Auslistung sensibler Daten], C136/17, Rn. 44).

Folglich können diese Bestimmungen nicht dahin ausgelegt werden, dass die Verarbeitung personenbezogener Daten, die indirekt sensible Informationen über eine natürliche Person offenbaren können, von der in diesen Bestimmungen vorgesehenen verstärkten Schutzregelung ausgenommen ist, da andernfalls die praktische Wirksamkeit dieser Regelung und der von ihr bezweckte Schutz der Grundrechte und Grundfreiheiten natürlicher Personen beeinträchtigt würden.

Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 95/46 und Art. 9 Abs. 1 der DSGVO dahin auszulegen sind, dass die Veröffentlichung personenbezogener Daten, die geeignet sind, die sexuelle Orientierung einer natürlichen Person indirekt zu offenbaren, auf der Website der Behörde, die für die Entgegennahme und die inhaltliche Kontrolle von Erklärungen über private Interessen zuständig ist, eine Verarbeitung besonderer Kategorien personenbezogener Daten im Sinne dieser Bestimmungen darstellt.
 



Verlag Dr. Otto Schmidt vom 13.08.2022 10:48
Quelle: EuGH online

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