OLG Celle v. 18.11.2021 - 13 Verg 6/21

Vergabeverfahren: Auslegung von Leistungsverzeichnissen

Aus den Vergabeunterlagen (hier: für interaktive Schultafeln) muss für die Bieter eindeutig und unmissverständlich hervorgehen, welche Erklärungen von ihnen verlangt werden. Die Auslegung der Leistungsbeschreibung hat unter Berücksichtigung der Grundsätze der §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont aus Sicht des potentiellen Bieters zu erfolgen.

Der Sachverhalt:
Die Antragsgegnerin hatte die Ausstattung der Schulen in ihrem Stadtgebiet mit interaktiven Tafeln europaweit ausgeschrieben. Die näheren Anforderungen an die Hardware, die Software und die begleitenden Dienstleistungen waren dem Leistungsverzeichnis in Form einer Excel-Tabelle zu entnehmen.

Die Antragstellerin und vier weitere Bieter gaben ein Angebot ab. Im Juni 2021 informierte die Antragsgegnerin die Antragstellerin, dass ihr Angebot auszuschließen sei. Aus dem Leistungsverzeichnis ergebe sich, dass die Ablage für Stifte und Schwämme mit der interaktiven Tafel - und nicht mit der Wandhalterung - verbunden sein müsse, „um die volle Funktionsfähigkeit auch im Fall einer Nutzung ohne die zusätzlich geforderten Tafelflügel oder die Wandhalterung/Höhenverstellung erfüllen zu können“. Das Angebot der Antragstellerin erfülle dieses Kriterium nicht.

Außerdem erfülle das Angebot die Anforderungen an die Telefonhotline nicht. Der Hersteller biete zwar eine deutschsprachige Hotline an, der technische Support sei aber nur englischsprachig verfügbar. Die Antragsgegnerin beabsichtige, den Zuschlag anderweitig zu erteilen.

Die Vergabekammer hat den Nachprüfungsantrag zurückgewiesen. Auf die sofortige Beschwerde der Antragstellerin hat das OLG den Beschluss aufgehoben und der Antragsgegnerin bis zu einer fehlerfreien Wiederholung der Wertung der Angebote unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats untersagt, den Zuschlag in dem Vergabeverfahren zu erteilen.

Die Gründe:
Der von der Antragsgegnerin im Juni 2021 erklärte, auf § 57 Abs. 1 VgV gestützte Ausschluss des Angebots der Antragstellerin ist nicht gerechtfertigt.

Der Ausschluss des Angebots lässt sich nicht darauf stützen, dass bei der von der Antragstellerin angebotenen Lösung die Ablage für Stifte und Schwämme nicht fest mit der interaktiven Tafel (Display) verbunden ist. Angebote, die Änderungen an den Vergabeunterlagen vornehmen, sind regelmäßig ohne Weiteres von der Wertung auszuschließen, § 57 Abs. 1 Nr. 4 VgV. Es entspricht allerdings - gerade mit Blick auf die Ausschlusssanktion - der BGH-Rechtsprechung, dass aus den Vergabeunterlagen für die Bieter eindeutig und unmissverständlich hervorgehen muss, welche Erklärungen von ihnen verlangt werden. Die Vergabestellen trifft insoweit die Verpflichtung, die Vergabeunterlagen klar und eindeutig zu formulieren und Widersprüchlichkeiten zu vermeiden. Da sich die Leistungsbeschreibung an eine Vielzahl von Bietern richtet, hat die Auslegung unter Berücksichtigung der Grundsätze der §§ 133, 157 BGB nach dem objektiven Empfängerhorizont aus Sicht des potentiellen Bieters zu erfolgen.

Das Leistungsverzeichnis im vorliegenden Fall enthält - wie auch die weiteren Vergabeunterlagen - keine Anforderung, dass die Ablagefläche für Stifte und Schwämme mit der interaktiven Tafel verbunden sein muss. Eine Vorgabe, dass die Ablagefläche mit der interaktiven Tafel, d.h. dem Display, verbunden sein muss, ist im Leistungsverzeichnis nicht zu finden. Dies ergibt sich entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin auch nicht daraus, dass die Spezifikation „Ablagefläche für Stifte und Schwämme unterhalb des Displays“ in der Gliederung des Leistungsverzeichnisses aufgeführt ist. Gegenstand der Beschaffung waren nicht die einzelnen Komponenten, sondern ein Gesamtsystem (Lieferung und Montage der gesamten Hardware einschließlich interaktiver Tafeln und Wandhalterung, der Software sowie Wartung und Pflege der Geräte). Den Vergabeunterlagen lässt sich nicht einmal entnehmen, dass es der Antragsgegnerin überhaupt darauf ankam, an welchem Bauteil die Ablagefläche befestigt sein sollte.

Soweit die Vergabekammer ausgeführt hat, die Antragsgegnerin habe im Vergabevermerk dargestellt, dass sie sich vorbehalte, die Displays auch ohne die Wandhalterung nutzen zu können, und dass die Antragsgegnerin im Nachprüfungsverfahren erklärt habe, dass auch der Einsatz in kleineren Besprechungsräumen (ohne die Wandhalterung) möglich sein solle, kommt es darauf schon deshalb nicht an, weil dies den Bietern vor Abgabe der Angebote nicht mitgeteilt worden war. Der Ausschluss des Angebots der Antragstellerin lässt sich, wie die Vergabekammer zutreffend ausgeführt hat, auch nicht damit begründen, dass das Angebot die Forderung „Deutschsprachige Telefonhotline … sowohl vom Hersteller als auch vom Bieter“ nicht erfülle, weil der technische Support des Herstellers nicht verfügbar sei, wie sich aus der Website des Herstellers und bei Testanrufen ergeben habe. Die Antragstellerin hatte allerdings bei der Anforderung „Deutschsprachige Telefonhotline“ an entsprechender Stelle „erfüllt“ eingetragen und der Antragsgegnerin ein unterzeichnetes Angebot unterbreitet. Somit ist die geforderte deutschsprachige Telefonhotline von ihrem Angebot erfasst.

Mehr zum Thema:

Den Volltext der Entscheidung finden Sie in der Datenbank Otto Schmidt online.

BGH, Urteil vom 3.4.2012 − X ZR 130/10
Deutlichkeit und Zumutbarkeit von Vergabeunterlagen

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 09.12.2021 11:37
Quelle: Niedersächsisches Landesjustizportal

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