EuGH, C-793/19 u.a.: Schlussanträge des Generalanwalts vom 18.11.2021

Vorratsdatenspeicherung weiter nur bei ernster Bedrohung für nationale Sicherheit

Die allgemeine und unterschiedslose Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten im Bereich der elektronischen Kommunikation ist nur bei einer ernsten Bedrohung für die nationale Sicherheit erlaubt. Diesen Standpunkt hat Generalanwalt Campos Sánchez-Bordona in seinen vorliegenden Schlussanträgen im Rahmen mehrerer Vorabentscheidungsersuchen (u.a. des BVerwG) bekräftigt.

Hintergrund:
Die EuGH-Rechtsprechung über die Speicherung und den Zugang zu personenbezogenen Daten im Bereich elektronischer Kommunikation hat bei einigen Mitgliedstaaten Besorgnis hervorgerufen. Verschiedene nationale Gerichte wandten sich im Wege von Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH, weil sie befürchteten, dass diese Rechtsprechung den staatlichen Behörden ein notwendiges Instrument zum Schutz der nationalen Sicherheit und zur Bekämpfung von Kriminalität und Terrorismus vorenthalten könne. Mit zwei Urteilen der Großen Kammer vom 6.10.2020 hat der EuGH die Rechtsprechung des Urteils Tele2 Sverige bestätigt und nuanciert. Auch wenn zu erwarten gewesen wäre, dass der Debatte damit ein Ende gesetzt wurde, weil der EuGH sich - im Dialog mit den nationalen Gerichten - um eine detaillierte Erläuterung der Gründe bemühte, die trotz allem die vertretenen Thesen rechtfertigten, scheint die Debatte noch kein Ende gefunden zu haben.

Der Sachverhalt:
Vor dem 6.10.2020 waren beim EuGH drei weitere Vorabentscheidungsersuchen eingegangen, mit denen die gefestigte Rechtsprechung im Zusammenhang mit den Ausnahmen von der Vertraulichkeit der Kommunikation und der Nutzerdaten hinterfragt wurde. Zwei dieser Ersuchen wurden vom BVerwG vorgelegt, das über die Revision der Bundesnetzagentur gegen die Urteile zu entscheiden hat, mit denen den Klagen zweier Gesellschaften, die Internetzugangsdienstleistungen erbringen, stattgegeben worden war; Klagen, mit denen die von den deutschen Rechtsvorschriften auferlegte Verpflichtung zur Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten der elektronischen Kommunikation ihrer Kunden angefochten worden war (C-793/19 und C-794/19).

Das dritte Ersuchen wurde vom Obersten Gerichtshof in Irland im Rahmen eines Zivilverfahrens eingereicht, mit dem sich eine wegen Mordes zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilte Person gegen die Gültigkeit einiger Bestimmungen eines irischen Gesetzes wandte (C-140/20). Nach diesem Gesetz waren Telefoniedaten, auf denen bestimmte Beweise der Anklage beruhten, gespeichert und zugänglich gemacht worden. Nach Kenntnisnahme von den Antworten des EuGH in den Urteilen vom 6.10.2020 beschlossen die betreffenden nationalen Gerichte, ihre Vorabentscheidungsersuchen aufrechtzuerhalten.

Zu diesen Vorabentscheidungsersuchen kommen jene beiden hinzu, die der Kassationsgerichtshof in Frankreich vorlegt hat, die über die Klagen zweier natürlicher Personen zu entscheiden hat, die wegen Insiderhandel und Geldwäsche auf der Grundlage von Ermittlungen der Finanzmarktaufsichtsbehörde angeklagt wurden, für die personenbezogene Daten betreffend die Nutzung bestimmter Telefonanschlüsse auf der Grundlage des Code monétaire et financier (Währungs- und Finanzgesetzbuch) verwendet worden waren (C-339/20 und C-397/20).

In seinen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Manuel Campos Sánchez-Bordona die Auffassung, dass die Antworten auf alle vorgelegten Fragen bereits in der Rechtsprechung des EuGH zu finden seien oder unschwer aus ihr abgeleitet werden könnten.

Die Gründe:

+++ C-793/19 und C-794/19 +++
Die mit den deutschen Rechtsvorschriften auferlegte Verpflichtung zu einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung erstreckt sich auf eine große Vielzahl von Verkehrs- und Standortdaten. Die zeitliche Begrenzung, die für diese Vorratsspeicherung gilt, heilt diesen Mangel nicht, da, abgesehen von dem gerechtfertigten Fall der Verteidigung der nationalen Sicherheit, die Speicherung von Daten über die elektronische Kommunikation selektiv erfolgen muss, aufgrund der schweren Gefahr, die mit der allgemeinen Speicherung dieser Daten verbunden ist. In jedem Fall stellt der Zugang zu diesen Daten einen schwerwiegenden Eingriff in die Grundrechte auf Familien- und Privatleben sowie den Schutz personenbezogener Daten dar, unabhängig von der Länge des Zeitraums, für den der Zugang zu den genannten Daten begehrt wird.

+++ C-140/20 +++
Die Fragen des Obersten Gerichtshof in Irland sind in den Urteilen La Quadrature du Net und Prokuratuur (EuGH v. 2.3.2021 - C-746/18) vollständig beantwortet worden. Die allgemeine und unterschiedslose Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten ist nur durch den Schutz der nationalen Sicherheit gerechtfertigt, was die Verfolgung selbst schwerer Straftaten nicht einschließt. Die irischen Rechtsvorschriften stehen daher nicht in Einklang mit der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation, wenn sie aus Gründen, die über die mit dem Schutz der nationalen Sicherheit verbundenen Gründe hinausgehen, zu einer präventiven, allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrs- und Standortdaten aller Teilnehmer für einen Zeitraum von zwei Jahren ermächtigen.

Zum anderen scheint der Zugang der zuständigen nationalen Behörden zu den gespeicherten Daten keiner vorherigen Kontrolle durch ein Gericht oder eine unabhängige Behörde zu unterliegen, wie dies von der Rechtsprechung des EuGH gefordert wird, sondern er liegt im Ermessen eines Polizeibeamten in einem bestimmten Rang. Der Oberste Gerichtshof wird prüfen müssen, ob dieser Beamte die in der Rechtsprechung aufgestellten Voraussetzungen erfüllt, dass er im Verhältnis zu der den Zugang beantragenden Behörde die Stellung einer "unabhängigen Stelle" hat und der Art nach ein "Dritter" ist. Diese Kontrolle hat vor und nicht nach dem Zugang zu den Daten zu erfolgen. Unter Hinweis auf das Urteil La Quadrature du Net ist erneut festzustellen, dass ein nationales Gericht die Feststellung, dass eine nationale Regelung mit dem Unionsrecht nicht vereinbar ist, nicht in ihrer zeitlichen Wirkung beschränken darf.

+++ C-339/20 und C-397/20 +++
Diese beiden Verfahren betreffen im Wesentlichen wie die drei vorgenannten die Frage, ob die Mitgliedstaaten die Verpflichtung zu einer allgemeinen und unterschiedslosen Speicherung von Verkehrs- und Standortdaten über die elektronische Kommunikation auferlegen könnten. Auch wenn hier die Richtlinie 2003/6/EG und die Verordnung (EU) Nr. 596/2014 über Marktmissbrauch zum Tragen kommen, ist in diesem Zusammenhang die im Urteil La Quadrature du Net zusammengefasste Rechtsprechung des Gerichtshofs anwendbar. Die in der Richtlinie und der Verordnung über Marktmissbrauch enthaltenen Bestimmungen über die Verarbeitung von Datenverkehrsaufzeichnungen sind in dem Rahmen auszulegen, der durch die Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation errichtet worden ist, die insoweit die Referenzvorschrift ist.

Weder die Richtlinie noch die Verordnung über Marktmissbrauch gewähren spezifische und eigenständige Befugnisse zur Datenspeicherung, sondern erlauben lediglich den zuständigen Behörden den Zugriff auf bestehende Datenaufzeichnungen, die im Einklang mit der Datenschutzrichtlinie für elektronische Kommunikation erfolgt sein müssen. Es handelt sich konkret um Aufzeichnungen, die zur Bekämpfung von schwerer Kriminalität und zum Schutz der öffentlichen Sicherheit gespeichert werden können, die nicht denen gleichgesetzt werden können, die präventiv, allgemein und unterschiedslos zum Schutz der nationalen Sicherheit gespeichert werden; andernfalls würde das sorgfältig austarierte Gleichgewicht, das dem Urteil La Quadrature du Net zugrunde liege, untergraben. Daher ist eine nationale Regelung, die Betreibern elektronischer Kommunikationsdienste im Rahmen der Untersuchung von Insidergeschäften oder Marktmanipulation und -missbrauch die Pflicht zu einer allgemeinen und unterschiedslosen Vorratsspeicherung von Verkehrsdaten auferlegt, nicht mit dem Unionsrecht vereinbar. Auch in diesem Fall können die Wirkungen dieser Unvereinbarkeit nicht durch ein nationales Gericht zeitlich beschränkt werden.

Mehr zum Thema:

  • Rechtsprechung: EuGH vom 02.03.2021, C-746/18 - Keine Zugriffsgewährung auf Vorratsdaten durch die Staatsanwaltschaft mit Anmerkung Rössel (ITRB 2021, 129)
  • Rechtsprechung: EuGH vom 06.10.2020, C-511/18, C-512/18, C-520/18 - Keine allgemeine Vorratsdatenspeicherung mit Anmerkung Rössel (ITRB 2020, 251)
  • Kurzbeitrag: Wöbbeking - BVerwG: Vorlage der Regelung zur Vorratsdatenspeicherung an den EuGH (CR 2019, R127)
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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 19.11.2021 10:34
Quelle: EuGH PM Nr. 206 vom 18.11.2021

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