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Verkehrte Welt: Zur Zweckentfremdung von „Grundrechten“ und zur Verklärung des „Nichtwissens“

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Gestern wurde über den Entwurf einer „Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union“ berichtet (Wieduwilt, „Exklusiv: Eine ‚Charta der Digitalen Grundrechte der EU’“, FAZ.net v. 28.11.2016). Am kommenden Donnerstag soll diese „Charta“ in ganzseitigen Anzeigen in der Tagespresse beworben werden. Einer der Hauptinitiatoren ist Martin Schulz (SPD), der bereits vor einem Jahr eine solche „Charta“ gefordert hatte (Härting, „Statt Brüderlichkeit Datenschutz – die digitale Agenda des Martin Schulz“, CRonline Blog v. 17.11.2016).

Geist der Charta

Der Entwurf einer „Charta“ ist von tiefem Misstrauen gegenüber dem digitalen Wandel geprägt. Die Gefahren, denen die „Charta“ im Kern begegnen möchte, gehen von Unternehmen aus.

Und man reibt sich die Augen, wenn man am Ende der „Charta“ liest, für wen die „Charta“ gelten soll:

„Rechte und Pflichten aus dieser Charta gelten für alle Unternehmen, die auf dem Gebiet der EU tätig sind. Die Festlegung eines Gerichtsstands außerhalb der EU ist unzulässig.“

Verkehrung grundrechtlicher Schutzrichtung

Im ersten Semester lernen Jurastudenten, dass Grundrechte das Verhältnis zwischen Bürger und Staat bestimmen und den Bürgern Freiräume gegenüber staatlichen Behörden verschaffen (siehe zuletzt etwa zur Vereinbarkeit staatlicher Vorratsdatenspeicherung  mit der grundrechtlichen Rechtsprechung des EuGH und EGMR Boehm/Andrees, CR 2016, 146 ff.).

Der Entwurf einer „Charta“ dreht den Spieß in Orwell‘scher Manier um. Die Grundrechte sollen nicht den Staat binden, sondern private Unternehmen. Zugleich soll es dem Staat obliegen, diese Grundrechte durchzusetzen. In naiver Staatsgläubigkeit werden Grundrechte, die die Freiheit privater Akteure sichern sollen, umfunktioniert.

Verkehrung grundrechtlicher Gefährdung

Auf derselben Linie liegt die Beschreibung der Gefahren, vor denen die „Charta“ schützen soll, die sich in Art. 1 Abs. 2 des Entwurfs findet:

„Neue Gefährdungen der Menschenwürde ergeben sich im digitalen Zeitalter insbesondere durch Big Data, künstliche Intelligenz, Vorhersage und Steuerung menschlichen Verhaltens, Massenüberwachung, Einsatz von Algorithmen, Robotik und Mensch-Maschine-Verschmelzung sowie Machtkonzentration bei privaten Unternehmen.“

Alle Gefahr geht von „privaten Unternehmen“ aus, von Big Data und anderen neueren Technologien. Um diesen Gefahren Einhalt zu gebieten, bedarf es eines starken Staates, für den die Grundrechte der Bürger nicht mehr als ein Mittel sind, um der Freiheit wirtschaftlicher Betätigung Grenzen zu setzen.

Verkehrung grundrechtlicher Freiheitsrechte?

Bezeichnend auch, welche Freiheiten der europäische Bürger nach den Vorstellungen der Entwurfsverfasser haben soll:

Einerseits heißt es in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 des Entwurfs, die Digitalisierung sei eine „elementare Bildungsherausforderung“. Während man noch rätselt, was dieser Satz wohl zu bedeuten hat, liest man Art. 2 Satz 3 des Entwurfs. Dort wird allen Ernstes ein „Recht auf Nichtwissen“ als zentrales Freiheitsrecht formuliert. Dies mag man aus Sicht technophober Bildungsbürger für verständlich erachten. Für eine aufgeklärte Gesellschaft kann das „Nichtwissen“ indes nicht schützenswert sein.

 

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Mehr zum Autor: RA Prof. Niko Härting ist namensgebender Partner von HÄRTING Rechtsanwälte, Berlin. Er ist Mitglied der Schriftleitung Computer und Recht (CR) und ständiger Mitarbeiter vom IT-Rechtsberater (ITRB) und vom IP-Rechtsberater (IPRB). Er hat das Standardwerk zum Internetrecht, 6. Aufl. 2017, verfasst und betreut den Webdesign-Vertrag in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt). Zuletzt erschienen: "Datenschutz-Grundverordnung".

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