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Datenschutz im 21. Jahrhundert – Teil 5: Warum es kein „Recht auf Vergessenwerden“ gibt

avatar  Niko Härting

Profiling, Big Data, Internet der Dinge: Das Datenschutzrecht hinkt der Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnik weit hinterher und schwankt zwischen Überregulierung und Resignation. Das eiserne Festhalten am Verbotsprinzip und die Fetischisierung der Einwilligung versperren den Blick auf die Zukunftsfragen des Persönlichkeitsschutzes.

In einem Annex zu dem jetzt in 5. Auflage erschienenen „Internetrecht“ befasse ich mich mit der Zukunft des Datenschutzrechts („Datenschutz im 21. Jahrhundert„). In einigen Blogbeiträgen stelle ich meine Überlegungen auszugsweise vor.

Zur vollständigen 5. Auflage in CRonline bei juris:  Härting, Internetrecht, 5. Aufl., 2014

 

Unter den Bedingungen der digitalen Informationsgesellschaft ist jedes Datenschutzrecht zwangsläufig zugleich ein Akt der Kommunikationsregulierung. Populäre Forderungen wie das von der EU-Kommission propagierte „Recht auf Vergessenwerden“ werfen die Frage auf, inwieweit hierdurch übermäßig in die Kommunikationsfreiheit eingegriffen wird.

Vorsicht Zensur?

Das „Recht auf Vergessenwerden“ steht im Zeichen der Datensparsamkeit, schont die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen, hat jedoch zugleich ein doppeltes Gesicht. In ihrem Jahresbericht 2012 zu den „Feinden des Internet“ bezeichnet die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ das von der EU-Kommission vorgeschlagene „Recht auf Vergessenwerden“ als Bedrohung der freien Netzkommunikation (Reporters Without Borders,“ Internet Enemies Report 2012″ v. 12.3.2012, S. 6 zur Überschrift „threat  to net neutrality and online free speech“).

Lyrisches

Ein Beitrag aus “The European” zum “Right To Be Forgotten”, beginnt lyrisch:

“Es gab Zeiten, da gab es ein Recht auf Vergessen. Da hat man, als Schluss war, den Packen Liebesbriefe genommen, und dramatisch in Flammen aufgehen lassen – und dann ward nie wieder gelesen, was einst zwei Herzen schrieben.”
(Ulrich, „Gelöscht, niemals verloschen“, The European v. 31.1.2012)

Und Viktor Mayer-Schönberger erinnerte im Jahre 2012 kurz vor Thanksgiving in der “Washington Post” ganz sentimental an gute alte Zeiten:

“Wenn man sich am Thanksgiving-Tisch gegenübersaß und die Wärme der Familie sowie das Aroma der Kastanienfüllung genoss, hat man sich zumeist nicht an die boshafte Bemerkung erinnert, die Tante Jennifer über Dich vor einigen Jahren fallen ließ. Man hat der unfreundlichen Anspielung nicht nachgehangen, die Onkel Julio letztes Weihnachten über Deine Trinkgewohnheiten zum Besten gab, oder den Sprüchen von Cousin Duwan über Deine Freundin in den schrecklichen Ferien am Strand. Zu Familienfesten umarmen wir für gewöhnlich unsere Verwandten, auch wenn wir sie seit Monaten oder Jahren nicht gesehen haben, trotz aller Auseinandersetzungen, die wir mit ihnen in der Vergangenheit hatten.”
(Mayer-Schönberger, „Why we need to let our online memories go“, Washington Post v. 23.11.2012)

Das befreiende Gefühl beim Verbrennen alter Briefe, die milde Gnade beim Vergessen familiären Streits: All diese Segnungen der guten vordigitalen Zeit sollen in Gefahr sein, wenn über Facebook, Google, Twitter und Co. die Zeugnisse der Vergangenheit auf alle Ewigkeiten abrufbar bleiben. So oder ähnlich klingt die Begleitmusik, mit der die Einführung eines “Rechts auf Vergessen” gefordert wird. Und man ist leicht versucht, in diese Musik einzustimmen, wissen wir doch alle, wie heilsam es ist, wenn das menschliche Gedächtnis selektiert:

Mach es wie die Sonnenuhr,
zähl die schönen Stunden nur!

Gar nicht auszudenken, wenn das “Vergessen” im digitalen Zeitalter in Gefahr wäre …

Vergessen im Zeitalter der Vergesslichkeit

Die EU-Kommission formuliert bezeichnenderweise im Passiv: Es geht ihr nicht um ein “Right To Forget”, sondern um ein “Right To Be Forgotten”. Und dies aus gutem Grund. Ein “Right To Forget” wäre nachgerade unsinnig. In Zeiten, in denen ein Buch mit dem flotten Titel “Digitale Demenz” zum vieldiskutierten Bestseller wird (vgl. Kempf, „Analoge Ignoranz spielt mit den Ängsten der Menschen“, FAZ online v. 3.10.2012), kann man schwerlich behaupten, dass das “Vergessen” in Gefahr ist. In Gefahr sind allenfalls die Konversation und die Interaktion:

 “Menschliche Beziehungen sind vielfältig; sie sind chaotisch und herausfordernd. Wir haben gelernt, Beziehungen mit Hilfe von Technologie aufzuräumen. Und der Übergang vom Gespräch zur Verbindung gehört dazu. Doch ist dies ein Vorgang, bei dem wir uns selbst betrügen. Schlimmer noch, allem Anschein nach hören wir mit der Zeit auf, uns dafür zu interessieren, wir vergessen den Unterschied.”
(Turkle, „The Flight From Conversation“, New York Times v. 21.4.2012)

Bei der Informationsflut, der wir ausgesetzt sind, ist die Merkfähigkeit das Problem und nicht die Fähigkeit des Vergessens. Und natürlich können und wollen weder Mark Zuckerberg noch Larry Page Menschen das Verbrennen von Briefen oder das Verdrängen familiärer Konflikte verbieten. Der Facebook-Nutzer des 21. Jahrhunderts vergisst aller Wahrscheinlichkeit nach so viel und so selektiv, wie dies bei den “fernsehsüchtigen” Großstadtkindern der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts der Fall war.

Für ein gesetzliches “Recht auf Vergessen” würde es an jeglichem Sachverhalt fehlen, auf den sich ein solches Recht stützen ließe. Es ist daher konsequent, wenn kein “Recht auf Vergessen”, sondern ein “Recht auf Vergessenwerden” gefordert wird.

Vergessenwerden – absurd

Allerdings: Liebesbriefe oder familiäres Thanksgiving – Die Parallelen zur analogen Vergangenheit werden bei einem “Recht auf Vergessenwerden” mehr als absurd.

Absurdität bei Liebesbriefen:  Wenn mein Ex-Geliebter meine uralten, vor peinlich-ungelenken Liebesbekenntnissen triefenden Briefe in einer Schatztruhe verwahrt, war und ist dies sein gutes Recht. Als Verfasser der Liebesbriefe habe ich kein Recht, die Vernichtung der Briefe zu verlangen. Noch viel weniger habe ich das Recht, von dem Verflossenen “vergessen zu werden”.

Absurdität an Thanksgiving:  Und auch das Thanksgiving-Beispiel eignet sich nicht als Beleg für ein natürliches Recht auf “Vergessenwerden”. Nicht alle Familientreffen verlaufen so harmonisch, wie dies im Hause Mayer-Schönberger der Fall zu sein scheint. Und so geschieht es, dass der Vater den Sohn oder die Mutter die Tochter zu Weihnachten gerne an picklige Jugendliebschaften oder die Lieblings-Boy-Band der Teenagerzeit und die knallgrün gestrichenen Wände des Kinderzimmers erinnert. Sohn und Tochter fluchen heimlich und wünschen sich, diese alten Geschichten mögen doch endlich “vergessen werden”.

Die Einführung eines Rechts, von Familie, Nachbarn und Freunden das “Vergessenwerden” peinlicher Jugendsünden zu verlangen, hat bis dato noch niemand verlangt.

BVerfG: Kein Recht auf ein Persönlickeitsbild

Bei einem “Recht auf Vergessenwerden” geht es nicht um Informationen in “meinem Gedächtnis”, sondern um Informationen im Gedächtnis der Mitmenschen. Und an diesen Informationen habe ich keine Rechte. Das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen umfasst nicht das Recht, darüber zu bestimmen, wie man selbst wahrgenommen wird. Oder mit den Worten des BVerfG:

“Das Persönlichkeitsrecht verleiht seinem Träger keinen Anspruch darauf, nur so in der Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist.”
(BVerfG, Beschl. v. 8.6.2010 – 1 BvR 1745/06)

Keine Praktikabilität

Auch in einem Bericht, den die EU-Agentur ENISA im November 2012 veröffentlicht hat, wird ein “Recht auf Vergessenwerden” kritisch gewürdigt (ENISA Report “The right to be forgotten – between expectations and practice” by Peter Druschel/Michael Backes/Rodica Tirtea). Die für die Netz- und Informationssicherheit zuständige Agentur gibt zu bedenken, dass das “Recht auf Vergessenwerden” bislang nur sehr vage definiert wird:

  • Berechtigter?  So sei nicht ersichtlich, wer zur Ausübung eines “Rechts auf Vergessenwerden” berechtigt sein soll, wenn sich Informationen auf mehrere Personen beziehen (Beispiel: ein Foto mit mehreren Personen).
  • Inhalt?  Zudem sei der genaue Inhalt des Anspruchs unklar.
  • Umfang?  Schließlich bleibe offen, ob das “Recht auf Vergessenwerden” ein Recht auf vollständige Beseitigung und Vernichtung von Daten bedeute oder ob es ausreiche, dass die jeweiligen Inhalte über Suchmaschinen oder auf ähnlich Weise nicht mehr auffindbar sind.

Wie problematisch ein “Recht auf Vergessenwerden” ist, demonstriert ENISA anhand von zwei Beispielen mit jeweils zwei Personen, deren Informationsinteressen betroffen sind:

“Man stelle sich einmal ein Foto vor, auf dem Alice und Bob zu sehen sind bei einer Aktivität an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit. Wenn man einmal annimmt, Alice wolle das Foto vergessen, während Bob darauf besteht, dass es erhalten bleibt, stellen sich folgende Fragen:

  • Wessen Wünsche sollen den Ausschlag geben?
  • Was geschieht, wenn eine Vielzahl von Personen auf einem Gruppenfoto zu sehen ist?
  • Wer soll berechtigt sein zu entscheiden, ob und wann das Foto vergessen werden soll?

Weiteres Beispiel: Bob nimmt einen Tweet teilweise in einen längeren eigenen Blogbeitrag auf. Wenn Alice zu einem späteren Zeitpunkt ihr Recht auf Beseitigung des Tweets ausübt, was bedeutet dies für Bobs Blogbeitrag?

  • Muss Bob den gesamten Beitrag löschen?
  • Muss er den Tweet aus dem Beitrag entfernen und seinen Beitrag umschreiben?
  • Welche Kriterien sollen für die Entscheidung gelten?”

(ENISA Report “The right to be forgotten – between expectations and practice” by Peter Druschel/Michael Backes/Rodica Tirtea, S. 7)

Die Beispiele belegen eindrucksvoll, dass sich Informationen nicht ohne Weiteres einer Person zuordnen lassen.

Soziale Realität und kollektives Gedächtnis

Daten und Informationen sind (auch) ein “Abbild sozialer Realität” (BVerfG, Urt. 15.12.1983 – 1 BvR 209/83, 1 BvR 269/83, 1 BvR 362/83, 1 BvR 420/83, 1 BvR 440/83, 1 BvR 484/83, BVerfGE 65, 1 ff. (41) zu C.II.1.b) = Rz. 150 – Volkszählung). Und es versteht sich von selbst, dass es keine Individualrechte an dieser “Realität” geben kann.

Zum “Abbild sozialer Realität” gehört auch das “kollektive Gedächtnis” – eine zivilisatorische Errungenschaft, der wir Archive, Museen und eine moderne Geschichtsschreibung verdanken. Was sollte aus diesem Kulturgut werden, wenn Einzelpersonen darüber entscheiden dürften, welche Informationen “vergessen werden“?

 

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Mehr zum Autor: RA Prof. Niko Härting ist namensgebender Partner von HÄRTING Rechtsanwälte, Berlin. Er ist Mitglied der Schriftleitung Computer und Recht (CR) und ständiger Mitarbeiter vom IT-Rechtsberater (ITRB) und vom IP-Rechtsberater (IPRB). Er hat das Standardwerk zum Internetrecht, 6. Aufl. 2017, verfasst und betreut den Webdesign-Vertrag in Redeker (Hrsg.), Handbuch der IT-Verträge (Loseblatt). Zuletzt erschienen: "Datenschutz-Grundverordnung".

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