EuGH v. 5.9.2019 - C-417/18

Notrufe: Telekommunikationsunternehmen müssen gebührenfrei Informationen zur Ermittlung des Standorts übermitteln

Telekommunikationsunternehmen müssen den die Notrufe unter der Nummer 112 bearbeitenden Stellen gebührenfrei die Informationen übermitteln, mit denen der Standort des Anrufers ermittelt werden kann. Die Mitgliedstaaten müssen sicherstellen, dass diese Verpflichtung auch dann umgesetzt wird, wenn das Mobiltelefon nicht mit einer SIM-Karte ausgestattet ist.

Der Sachverhalt:
AW u.a. sind Angehörige von ES, einer siebzehnjährigen Jugendlichen, die Opfer einer Straftat wurde. Sie wurde am 21.9.2013 gegen sechs Uhr morgens in einem Vorort von Panevėžys in Litauen entführt, vergewaltigt und im Kofferraum eines Autos lebendig verbrannt. Während sie im Kofferraum eingesperrt war, sandte sie mit einem Mobiltelefon unter der europaweit einheitlichen Notrufnummer 112 etwa ein Dutzend Mal einen Hilferuf an das litauische Notfallzentrum. Den dortigen Bediensteten wurde jedoch die Nummer des verwendeten Mobiltelefons nicht angezeigt, so dass dessen Standort nicht ermittelt werden konnte. Es ließ sich nicht aufklären, ob das von ES verwendete Mobiltelefon über eine SIM-Karte verfügte und warum seine Nummer im Notfallzentrum nicht angezeigt wurde.

AW u.a. haben vor dem zuständigen Verwaltungsgericht in Litauen gegen den litauischen Staat eine Klage auf Ersatz des dem Opfer, ES, und ihnen selbst entstandenen immateriellen Schadens erhoben. Sie stützen ihre Klage darauf, dass Litauen nicht für die ordnungsgemäße praktische Umsetzung der Universaldienstrichtlinie (Richtlinie 2002/22/EG) gesorgt habe, wonach die Mitgliedstaaten sicherstellen müssten, dass die Telekommunikationsunternehmen den die Notrufe unter der Nummer 112 bearbeitenden Stellen unmittelbar nach Eingang des Anrufs bei diesen Stellen gebührenfrei Informationen zum Anruferstandort übermittelten. Dies gelte für alle Anrufe unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer 112. Wegen der mangelhaften Umsetzung der Richtlinie hätten den örtlichen Polizeidienststellen die Angaben zum Standort von ES nicht übermittelt werden können, so dass sie daran gehindert gewesen seien, ihr Hilfe zu leisten.

Das Verwaltungsgericht möchte vom EuGH wissen, ob die Universaldienstrichtlinie den Mitgliedstaaten die Verpflichtung auferlegt, die Übermittlung der Standortangaben auch dann sicherzustellen, wenn der Anruf von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt wird, und ob die Mitgliedstaaten über ein Ermessen bei der Festlegung der Kriterien für die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Angaben zum Standort des Anrufers der Nummer 112 verfügen, das es ihnen gestattet, diese Angaben auf die Nennung der Basisstation zu beschränken, über die der Anruf übermittelt wurde.

Die Gründe:
Nach dem Wortlaut der Universaldienstrichtlinie werden alle Anrufe unter der einheitlichen europäischen Notrufnummer von der Pflicht zur Übermittlung von Informationen zum Anruferstandort erfasst. Die Universaldienstrichtlinie hat in ihrer ursprünglichen Fassung den Mitgliedstaaten unter der Voraussetzung der technischen Durchführbarkeit eine Erfolgspflicht auferlegt, die sich nicht auf die Einrichtung eines angemessenen Rechtsrahmens beschränkt, sondern verlangt, dass die Informationen zum Standort aller Anrufer der Nummer 112 tatsächlich den Notdiensten übermittelt werden. Daher können Anrufe unter der Nummer 112, die von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt werden, nicht vom Anwendungsbereich der Universaldienstrichtlinie ausgeschlossen werden.

Daher erlegt die Universaldienstrichtlinie den Mitgliedstaaten vorbehaltlich der technischen Durchführbarkeit die Verpflichtung auf, sicherzustellen, dass die betreffenden Unternehmen den die Notrufe unter der Nummer 112 bearbeitenden Stellen unmittelbar nach Eingang des Anrufs bei diesen Stellen gebührenfrei Informationen zum Anruferstandort übermitteln, auch wenn der Anruf von einem Mobiltelefon ohne SIM-Karte aus getätigt wird. Zwar verfügen die Mitgliedstaaten bei der Festlegung der Kriterien für die Genauigkeit und Zuverlässigkeit der Angaben zum Standort des Anrufers der Nummer 112 über ein gewisses Ermessen; die Kriterien müssen aber im Rahmen der technischen Machbarkeit stets gewährleisten, dass der Standort des Anrufers so zuverlässig und genau bestimmt werden kann, wie es erforderlich ist, damit die Notdienste ihm wirksam helfen können. Das den Mitgliedstaaten bei der Festlegung dieser Kriterien zustehende Ermessen findet seine Grenze daher darin, dass gewährleistet sein muss, dass die übermittelten Angaben eine effektive Ermittlung des Anruferstandorts ermöglichen, damit die Notdienste tätig werden können. Da die Beurteilung dieser Gegebenheiten in hohem Maß technischen Charakter hat und eng mit den Besonderheiten des litauischen Mobilfunknetzes verbunden ist, ist sie Sache des vorlegenden Gerichts.

Schließlich führt der Gerichtshof aus, dass zu den Voraussetzungen dafür, dass ein Mitgliedstaat für Schäden haftet, die dem Einzelnen durch diesem Staat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, die Existenz eines unmittelbaren Kausalzusammenhangs zwischen dem Rechtsverstoß und dem eingetretenen Schaden gehört. Die im nationalen Schadensersatzrecht festgelegten Voraussetzungen dürfen jedoch nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die nationales Recht betreffen. Folglich ist ein nach dem nationalen Recht eines Mitgliedstaats für den Eintritt der Haftung dieses Staates ausreichender mittelbarer Kausalzusammenhang zwischen einem Rechtsverstoß der nationalen Behörden und dem entstandenen Schaden auch als ausreichend dafür anzusehen, dass der Staat für einen ihm zuzurechnenden Verstoß gegen das Unionsrecht haftet.

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Verlag Dr. Otto Schmidt vom 05.09.2019 15:08
Quelle: EuGH PM Nr. 105 vom 5.9.2019

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